Das Landesarchiv Baden-Württemberg bildet mit einer umfassenden Wanderausstellung das Schicksal von Heimkindern in den Jahren 1949 bis 1975 ab. „Die Betroffenen sind stark geprägt von ihrer Zeit im Heim“, sagt Nastasja Pilz.

Bundesweit waren von den 60er– bis in die 70er Jahre rund 800 000 Kinder und Jugendliche in Heimen untergebracht. Auch in Baden-Württemberg gab es mehr als 600 Einrichtungen. Während die einen in solchen Heimen Zuneigung erfahren haben und Schutz vor einem unzumutbaren Elternhaus, waren andere großen Strapazen bis hin zu sexuellem Missbrauch ausgesetzt.

 

Diese Schicksale bildet jetzt die Wanderausstellung „Verwahrlost und gefährdet? Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975“ des Landesarchivs ab, die am Mittwoch im Haus der Abgeordneten begonnen hat und noch bis zum 10. Juli dort zu sehen ist. Seit 2012 setzt sich das Landesarchiv im Rahmen des Projekts „Heimerziehung in Baden-Württemberg 1949-1975“ mit dem Thema auseinander. Nicht nur historisch, sondern auch ganz konkret, durch die Unterstützung Betroffener bei der Suche nach Daten ihrer Vergangenheit. Seit der Gründung sind knapp 1500 Anfragen von ehemaligen Heimkindern eingegangen. Sie möchten Informationen über Eltern, Geschwister oder über die Gründe ihrer Heimeinweisung. „Die hohe Anzahl der Anfragen zeigt die Notwendigkeit, Betroffenen bei ihren Recherchen fachkundige Hilfe zu geben“, sagt der Präsident des Landesarchivs, Robert Kretzschmar.

Bei der Akteneinsicht fließen Tränen

„Die Betroffenen sind stark geprägt von ihrer Zeit im Heim“, sagt Nastasja Pilz. Ob im positiven oder negativen Sinn. Manche seien an den Strapazen gewachsen, ein Großteil jedoch habe bis heute mit den körperlichen oder psychischen Spätfolgen zu kämpfen. Nastasja Pilz begleitet die Suchenden bei ihrer Recherche, führt Gespräche und fühlt vor. „Um die Menschen darauf vorzubereiten, lese ich die Akten vorher und markiere problematische Stellen“, sagt sie. Manchmal werden Briefe von Eltern in den Akten entdeckt, die die Kinder nie erreicht haben. Auch wenn bei Akteneinsicht häufig Tränen fließen oder Wut aufkommt, so sei die Suche nach dem eigenen Lebensweg ein wichtiger Teil der Vergangenheitsbewältigung. „Erst dann können viele abschließen und Therapieerfolge erzielen, aber es gehört zunächst viel Kraft und viel Mut dazu, davor habe ich großen Respekt“, sagt Nastasja Pilz.

Durch die Ausstellung und die dazugehörige Begleitpublikation soll das Thema in den Fokus der Aufmerksamkeit gerückt werden. „Es war an der Zeit, die Missstände in der Heimerziehung aufzuarbeiten und öffentlich zu machen. Viele ehemaligen Heimkinder haben über die erlittenen körperlichen und seelischen Misshandlungen jahrzehntelang geschwiegen, auch weil es in der Gesellschaft lange keinen Willen zur Aufklärung gab“, sagt die Sozialministerin Katrin Altpeter bei der Eröffnung.

Zeitzeugen berichten von harten Bestrafungen

Die Ausstellung zeigt anschaulich, welchen Zumutungen die Heimkinder ausgesetzt waren. Zeitzeugen berichten von schwerer körperlicher Arbeit, harten Bestrafungen und psychischem Druck. „Wir standen 24 Stunden unter Kontrolle“ lautet etwa ein Zitat von Hartmut D., der ein Heimkind war. Die Berichte werden durch historische Fakten ergänzt. Die Tafeln erzählen vom Mangel an geeigneten Räumen und ungeschultem Personal. „Häufig wurden Schulabgängerinnen für die Betreuung eingesetzt“, sagt die Kuratorin, Nadine Seidu. Vom 23. September bis zum 30. Oktober wird die Ausstellung im Hauptstaatsarchiv wieder in Stuttgart gezeigt.