Die viel zitierte „Renaissance der Stadt“ hat in den vergangenen Jahren einen Dämpfer erhalten: Weil die Wohnungspreise so hoch und das Angebot so knapp ist, ziehen wieder mehr Menschen in Nachbargemeinden im Speckgürtel der Landeshauptstadt.

Lokales: Mathias Bury (ury)

Stuttgart - Seit einigen Jahren wächst Stuttgart kräftig, nicht zuletzt durch Zugzüge von außerhalb und aus dem Ausland. Ende 2016 zählte man in der Landeshauptstadt 609 000 Einwohner. Betrachtet man jedoch die Wanderungsbewegung innerhalb der Region, so zeigt sich: An die umliegenden Kreise verliert die Landeshauptstadt nach wie vor Bürger, seit einigen Jahren sogar in zunehmendem Maße. Die Menschen ziehen vor allem in Kommunen in der unmittelbaren Umgebung Stuttgarts.

 

Dabei war nach der Jahrtausendwende die Rede von einer Renaissance der Städte. Auch in Stuttgart sanken in diesen Jahren die Fortzüge ins Umland. Noch in den 80er und 90er Jahren zogen Familien teils weit hinaus in die Region. Sie verwirklichten dort ihren Traum vom Eigenheim und nahmen weite Wege zur Arbeit in Kauf. Diese „Suburbanisierung“ wurde nach dem Jahr 2000 von einer neuen Vorliebe fürs urbane Leben abgelöst. Kurze Wege in der Stadt, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, keine langen Fahrten zur Arbeit, ein verändertes Familienleben seien Gründe für diesen Wandel, sagt Ansgar Schmitz-Veltin vom Statistischen Amt der Stadt. „Wenn in der Familie beide Elternteile erwerbstätig sind, lässt sich der komplizierte Alltag in der Stadt besser unter einen Hut bringen.“

Seit 2012 sind die Wegzüge stark gestiegen

Doch seit einigen Jahren wird dieser weiter bestehende Trend von einer neuen Entwicklung überlagert: Die Zahl der Haushalte, die aus Stuttgart weg in die Region ziehen, ist merklich gewachsen. Seit dem Jahr 2010 sind 21 700 Menschen mehr von hier in die umliegenden Landkreise abgewandert als von dort zugezogen.

Besonders ausgeprägt ist dies seit 2012. In dem Jahr stieg die Zahl der Wegzüge aus der Landeshauptstadt ins Umland von vorher 1780 auf 3400. Den vorläufigen Höhepunkt erreichte die Zunahme 2015 mit mehr als 4400 Fortzügen von Stuttgart in die Nachbarkreise. Im Vorjahr sank diese Zahl auf 3700 – immer noch ein hoher Wert. Nach Ansicht von Ansgar Schmitz-Veltin ist diese Entwicklung festzustellen, „seit die Anspannung auf dem Wohnungsmarkt größer geworden ist“. Wer in Stuttgart eine Wohnung sucht, sieht sich mit hohen Preisen und einem zu geringen Angebot konfrontiert.

Auffallend ist, dass die Abwanderer nicht wie früher weit draußen in der Region ein Häusle bauen wollen. Stattdessen wollen sie möglichst nah an der Großstadt bleiben. Viele ziehen im Umkreis von etwa 20 Kilometern in den „ersten Ring“ um die Landeshauptstadt, vorzugsweise in direkt angrenzende und gut an den öffentlichen Personennahverkehr angeschlossene Kommunen im sogenannten Speckgürtel.

Eine Ursache: die restriktive Baupolitik

Da auch dort die Preise stark gestiegen sind, lässt sich daraus schließen, dass es nicht nur die Mietkosten oder die Kaufpreise sind, die Wohnungssuchende ins Umland treiben. Dies habe auch die jüngste Bürgerumfrage ergeben, so Schmitz-Veltin. „Das Angebot fehlt. Auch Menschen, die sich in Stuttgart eine Wohnung leisten könnten, finden oft nicht das, was sie suchen.“ Dies sei auch eine Folge der „recht restriktiven Baupolitik“ in der Landeshauptstadt. Selbst Wohnprojekte wie beispielsweise der Seepark in Möhringen oder im Europaviertel beim Hauptbahnhof seien „nur Tropfen auf den heißen Stein“, so Statistiker Schmitz-Veltin.

Von dieser Mangelsituation haben einige angrenzende Städte besonders profitiert. So etwa Ostfildern (Kreis Esslingen), wo seit 2012 insgesamt 1502 Personen mehr aus Stuttgart hin als von dort weg in die Landeshauptstadt gezogen sind. Ähnlich ist der Saldo in diesen Jahren in Leinfelden-Echterdingen (plus 1442 aus Stuttgart) und in Fellbach (1331). Im Verhältnis zur Einwohnerzahl noch stärker ausgeprägt ist das Verhältnis mit Remseck (plus 1055 aus Stuttgart).

Konversionsflächen sind aufgebraucht

In Ostfildern und in Remseck sind es insbesondere die großen Konversionsflächen Scharnhauser Park beziehungsweise Pattonville, die den starken Zuzug von Bürgern aus Stuttgart erklären. Ein Grund für den leichten Rückgang dieser Entwicklung im vergangenen Jahr könnte denn auch sein, dass diese beiden großen Gebiete inzwischen so gut wie aufgesiedelt sind.

„Unser Schwerpunkt lag in Pattonville“, sagt Karl Velte, der Baubürgermeister von Remseck. „Dort haben wir nur noch Restflächen.“ Die Stadt in Stuttgarts Norden will auch in Zukunft wie bisher „um 450 bis 500 Menschen im Jahr wachsen“, sagt Velte. So sollen etwa in der geplanten neuen Mitte der Neckarstadt 400 bis 500 Wohnungen entstehen, in klassischem Geschosswohnungsbau. Auch Ostfildern will weitere Bauflächen entwickeln, zu einem gewissen Teil im Außenbereich. Ein weiterer Gewinner des regionalen Wettbewerbs um Einwohner im Süden ist Leinfelden-Echterdingen. „Wir spüren einen ungeheuren Zuzugsdruck“, sagt Oberbürgermeister Roland Klenk. Und dies, obwohl man anders als vor Jahrzehnten ein ähnlich hohes Preisniveau habe wie manche Stadtteile Stuttgarts. Auch „LE“ will weiter wachsen. „Um 2000 bis 3000 Bewohner die nächsten fünf bis sieben Jahren“, erklärt Klenk. Man sei dabei, Baugebiete im Umfang von 20 Hektar neu zu entwickeln. Und zwar für Wohnungen, „die auch für Familien und für Alleinerziehende bezahlbar sind“, sagt Klenk. „Wir bemühen uns, dem extremen Preisdruck die Spitze zu nehmen“, meint der Oberbürgermeister von Leinfelden-Echterdingen. Klenk findet: „Da hat die Politik eine Entwicklung verschlafen.“