Die Jugendhilfe schlägt Alarm: Nach dem Wegfall des Ganztagsangebots in Freiberg bleiben viele Kinder unbetreut – der Schulweg nach Mönchfeld ist ihnen zu lang. War die Schulfusion ein Fehler?

Stuttgart - Sind 2,4 Kilometer Schulweg – oder maximal zwei Kilometer Luftlinie – zu lang für ein sechsjähriges Kind? Diese Frage haben viele Familien in Stuttgart-Freiberg nun mit den Füßen beantwortet – und ihre Erstklässler nicht an der Ganztagsgrundschule in Mönchfeld angemeldet, sondern an der Außenstelle in Freiberg. Die ist zwar näher, bietet aber seit diesem Schuljahr nur noch eine Halbtagsklasse an – ohne Mittagessen, ohne Hausaufgabenbetreuung. Das hat zur kuriosen Situation geführt, dass viele Erstklässer mittags sich selbst überlassen sind, während ihre älteren Geschwister noch in den Hort dürfen. Die Stuttgarter Caritas hat nun Alarm geschlagen – auch bei Schulbürgermeisterin Isabel Fezer (FDP). Begründung: Das neue, vom Gemeinderat 2016 beschlossene Schulkonzept schließe faktisch gerade Kinder aus sozial schwächeren Familien vom Ganztag aus, zumal diese kein Geld für Bahn oder Bus hätten.

 

„Die Familien hier brauchen eine Stadtteilschule mit kurzen Wegen“, sagt Knut Vollmer. Er leitet das Schülerhaus der Herbert-Hoover-Schule in Mönchfeld, vom nächsten Schuljahr an soll dort die gebundene Ganztagsschule stattfinden. 2016 wurden die Mönchfeld- und die Herbert-Hoover-Schule zusammengelegt. Die Vereinbarung: der Ganztag findet mit drei Klassen in Mönchfeld statt und der Halbtag mit einer Klasse in Freiberg. Somit sollte in Freiberg Platz für die wachsende Gemeinschaftsschule geschaffen werden.

Elternschaft in Freiberg fühlt sich im Stich gelassen

„So, wie man sich das vorstellt, funktioniert’s nicht“, sagt Vollmer. „Die Familien können den Weg nicht leisten.“ Das sieht auch Miriam Brune so, die Leiterin der Herbert-Hoover-Schule. Der von der Stadt mitgetragene Vorstoß bei den Stuttgarter Straßenbahnen (SSB) für einen Bustransfer oder eine Extraschleife sei leider gescheitert. „Die Elternschaft in Freiberg fühlt sich im Stich gelassen, sie wehrt sich nicht, sondern zieht sich still zurück“, so Brune. Im Stadtbezirk Mühlhausen ist fast die Hälfte aller Haushalte alleinerziehend, mehr als 15 Prozent beziehen Sozialhilfe – in Freiberg dürften es noch mehr sein. Auch die Quote der Familien mit Erziehungshilfe ist überdurchschnittlich hoch.

Für die drei Ganztagsklassen in Mönchfeld wurden nur 38 Kinder angemeldet, für den Halbtag in Freiberg aber 32 – das heißt, sechs bis acht Kinder zu viel. Sie sollen nun doch nach Mönchfeld, wo man jetzt auch über ein Halbtagsangebot nachdenkt. Zwölf Familien haben Umschulungsanträge gestellt: nach Mühlhausen, zur Silcher- oder zur Uhlandschule.

Dass die Schüler in Mönchfeld zudem, während ihre Schule für den Ganztag saniert wird, 2020 in Container an der Turnhalle Mühlhausen umziehen sollen, finde die Schulgemeinschaft nicht akzeptabel, so Brune. Diese und die Caritas fordern nun „eine tragfähige Stadtteilschule im Primarbereich mit Ganztagsbetrieb vor Ort“. Das habe man auch Fezer mitgeteilt.

Schulbürgermeisterin will sich den Schulweg genau angucken

Die Bürgermeisterin versicherte auf Anfrage: „Ich will mir das sehr gründlich angucken – auch den Schulweg. Wenn der nicht bewältigt wird, müssen andere Lösungen gefunden werden“, so Fezer. „Ich will das Problem nicht wegreden – die Frage ist: kriegen wir das gewuppt?“

Diese Frage stellen sich inzwischen auch die Ratsfraktionen von SPD, CDU, Grünen und SÖS/Linke-plus. In einem Antrag an die Stadtverwaltung verweisen sie selbstkritisch darauf, dass es bereits beim Beschluss zur Zusammenlegung der beiden Grundschulen Reaktionen aus der Familienhilfe gegeben habe, die Probleme mit dem Schulweg befürchtete. „In der Tallage des Stadtbezirks gibt es künftig also zwei Ganztagsstandorte, im Wohngebiet Freiberg keinen, obwohl hier Bedarf besteht und auch nennenswerte Aufsiedelungen anstehen“, schreiben die Fraktionen.

Auf ihren Antrag hin wird Bürgermeisterin Isabel Fezer am 16. Mai im Verwaltungsausschuss über den aktuellen Sachstand berichten, samt detaillierten Daten zu Anmeldezahlen, Sozialdaten und gemeldetem Ganztagsbedarf. Bei letzterem ist sich Brune sicher: „Es gibt eine große Dunkelziffer von Familien, die entgegen ihres Bedarfs anmelden.“

Das Staatliche Schulamt hält sich bedeckt

Das Staatliche Schulamt hält sich derzeit bedeckt. Man könne zu Anfragen über Anmeldezahlen, möglichen Problemen oder gar Lösungsvorschlägen „im Moment keine genauen Aussagen machen, da sowohl die Zahlen als auch die Gestaltungsprozesse vor Ort im Fluss sind“, sagt Schulamtsdirektorin Sabine Graf auf Anfrage. Alle zuständigen und zur Sache wissenden Personen seien „nicht erreichbar“.