Als erfahrener Meteorologe und Gärtner weiß der Esslinger Michael Gutwein, dass der Klimawandel in der Pflanzenwelt Wirkung zeigt. Trotzdem kann die Natur auch ihn zum Staunen bringen: Auf der Neckarhalde hat er ein blühendes Apfelbäumchen entdeckt.

Das Wetter hat in diesem Jahr schon so manche Kapriolen geschlagen. Wer wüsste das besser als ein so erfahrener Meteorologe wie der Esslinger Michael Gutwein, der jahrzehntelang die Stimme des Deutschen Wetterdiensts in Stuttgart gewesen war und der auch im Ruhestand das meteorologische Geschehen in der Region im Blick behält. Als Fachmann für Phänologie weiß er, dass der Klimawandel in der Pflanzen- und der Tierwelt immer spürbarere Folgen zeigt. Doch zuweilen können die Launen der Natur sogar einen Kenner wie ihn überraschen. Beim Spaziergang auf der Esslinger Neckarhalde hat er in den letzten Tagen in einer Spalierobstanlage ein Bäumchen entdeckt, das Apfelblüten trägt. „Nicht nur eine, sondern ganz ordentlich viele“, berichtet Michael Gutwein. Sein Urteil: „Das ist für Anfang November doch etwas außergewöhnlich, aber bei dieser sehr milden Wetterlage seit Mitte Oktober auch nicht wunderlich. Daran erkennt man einmal mehr, wie sensibel manche Pflanzen reagieren.“

 

„So etwas noch nie erlebt“

Die Phänologie untersucht die Entwicklung von Pflanzen und Tieren im Jahreslauf, indem sie wesentliche Entwicklungsschritte wie den Beginn des Austriebs, der Blüte oder der herbstlichen Blattverfärbung über die Jahre und Jahrzehnte hinweg dokumentiert. Und da haben Gutwein und seine Kollegen deutliche Veränderungen registriert. So ist die Winterzeit von durchschnittlich 112 Tagen in den Jahren 1961 bis 1990 auf 96 Tage in den Jahren 1991 bis 2020 zurückgegangen. Die Folgen hat der hoch geschätzte Meteorologe, der auch eine Ausbildung zum Gärtner vorweisen kann, im vergangenen Frühjahr in unserer Zeitung so beschrieben: „Die Pflanzen kommen nicht mehr zur Ruhe und sind immer mehr Stress ausgesetzt – wie ein Mensch, der schlecht schläft.“ Der langfristige Trend ist eine Sache – außergewöhnliche Beobachtungen sind eine andere. „Dass die Apfelblüte im November mit so vielen Blüten auftritt, habe ich noch nicht erlebt“, verrät Gutwein mit Blick auf seine Beobachtungen auf der Neckarhalde. Der Apfelbaum, der dort solche Blütenpracht zeigt, zähle zur Sorte Pinova: „Das ist ein sehr guter Apfel zum Essen, auch sein Saft ist sehr beliebt.“

Auch wenn ihn seine Beobachtung überrascht hat, hat Michael Gutwein eine Erklärung für die unzeitgemäße Blütenpracht parat: „Geschuldet ist dies der warmen zweiten Oktoberhälfte mit 14 bis fast 20 Grad an den Nachmittagen und vor allem lauen Nächten – oft sogar im zweistelligen Bereich. Die Tiefstwerte bei zehn bis zwölf Grad haben diese Blüten rasant wachsen lassen. Dazu hatten wir im Gegensatz zur ersten Monatshälfte auch ganz ordentlich Sonnenschein.“ Hinzu komme, dass bislang alle Monate dieses Jahres zu nass waren. „Das ist eine Besonderheit nach acht viel zu trockenen Jahren“, erklärt der Meteorologe. „Die Pflanzen konnten deshalb aus dem Vollen schöpfen und mussten den Wasserhaushalt nicht selbst regulieren. Das führt dann in zu milden Herbstzeiten oftmals zu einer verfrühten Blüte.“

Viele Blüten – keine zweite Ernte

Eine reiche zweite Apfelernte lässt die herbstliche Apfelblüte allerdings nicht erwarten, auch wenn Michael Gutwein beim Spaziergang auf der Neckarhalde sogar Bienenflug registriert hat: „Dass da schon Früchte fürs kommende Jahr entstehen, ist eher unwahrscheinlich, selbst wenn es zu einer Befruchtung kommt. Denn es liegt ja noch ein Winter dazwischen, in dem irgend wann mal Minustemperaturen auftreten werden.“ Dass die herbstliche Blütezeit schlimmeren Schaden verursachen könnte, erwartet Gutwein nicht: „Eingehen wird der Baum deswegen nicht. Das kann er wegstecken. Die Knospen sind jedoch von der Natur für das Frühjahr gedacht. Das heißt, dass der Baum 2025 weniger Früchte tragen wird.“