In seinen fünf Jahren als Abgeordneter hat Stephen Brauer (53) rasch Profil gewonnen. Finanzen und Wissenschaft zählen zu den Schwerpunktthemen des Oberstudienrates aus Crailsheim, der in der Landtags-FDP den Wahlkreis Schwäbisch Hall vertritt. Bis zuletzt wirkte er engagiert und keineswegs amtsmüde. Doch im August kündigte Brauer überraschend an, bei der Wahl im Frühjahr 2026 nicht wieder zu kandidieren. Seine ungewöhnliche Begründung: „Die Änderung des Wahlrechts hat Auswirkungen, die ich mit meinem Gewissen nicht vereinbaren kann.“
Der Liberale fürchtet zum einen, dass Zweitstimme und Landesliste zu mehr Bürgerferne führen. Die Arbeit der Abgeordneten werde sich „weg von den Bürgern, hin zur Partei verlagern“. Dort müssten Kandidaten um einen guten Listenplatz buhlen. Er wolle aber nicht „Parteivorgaben aus Stuttgart unters Volk bringen, sondern die Interessen der Bürger in Stuttgart artikulieren“.
FDP-Mann geht „schweren Herzens, aber erhobenen Hauptes“
Noch mehr aber stört sich Brauer an der drohenden Aufblähung des Landtags. Im schlimmsten Fall gebe es künftig 220 Abgeordnete, also 100 mehr als die Sollgröße. Da werde der Bundestag nach langem Anlauf um etwa 100 Mandate verkleinert, „und wir satteln die gleiche Anzahl in Baden-Württemberg drauf“ – das ist für ihn nicht vermittelbar. Sein Fazit: „Aus diesen Gründen werde ich den Landtag schweren Herzens, aber erhobenen Hauptes verlassen.“ Alle Versuche, ihn umzustimmen, blieben bisher erfolglos.
Mit seinem Rückzug bekräftigt Brauer zugleich den Kurs von Landespartei und Fraktion: Seite an Seite mit der privaten Initiative des pensionierten Chemikers Dieter Distler (81) aus Bietigheim-Bissingen kämpft sie gegen den drohenden „XXL-Landtag“. Per Volksbegehren soll das Wahlrecht wieder gekippt werden, wenn nicht zur nächsten, dann zur übernächsten Wahl. Zuvor war ihr eigener Vorstoß, die Bürger abstimmen zu lassen, an formalen Einwänden des Innenministeriums gescheitert. Die Hürden sind hoch: im ersten Schritt müssten bis Anfang Februar mehr als 750 000 Wahlberechtigte unterschreiben. Derzeit werden Stimmen gesammelt, es scheint eher zäh zu laufen.
Bis zu 200 Millionen Euro Mehrkosten?
Bestätigt sehen können sich Brauer und die Liberalen – wie die AfD-Fraktion stimmten sie einst gegen das neue Wahlrecht – durch eine bisher unter Verschluss gehaltene Prüfungsmitteilung des Landesrechnungshofes vom Oktober 2023, die jetzt durch Recherchen unserer Zeitung bekannt wird. Ein großes Kapitel ist den „Auswirkungen der Wahlrechtsreform auf den Landtag“ gewidmet. Drei mögliche Szenarien haben die Finanzkontrolleure dafür durchgerechnet, mit beeindruckenden Zahlen. Über die gesamte nächste Legislaturperiode könnte die Wahlrechtsreform zu Mehrkosten von bis zu 200 Millionen Euro führen. Zum Vergleich: Bei jährlichen Kosten von 113 Millionen Euro sind es schon jetzt 565 Millionen Euro in fünf Jahren. Je Einwohner seien das jährlich gerade mal 10,22 Euro, rechnet der Landtag gerne vor.
Bei seinen Berechnungen stützt sich der „Hof“ auf die Annahme des Politikwissenschaftlers Joachim Behnke von der Zeppelin Universität in Friedrichshafen: Er legte das Ergebnis der jüngsten Bundestagswahl zugrunde und kam, wegen der zu erwartenden Überhangs- und Ausgleichsmandate, auf einen Zuwachs von mehr als 60 Abgeordneten. Zusammen mit den bisherigen 154, schon 34 über der Sollgröße, wären das rund 220. Eine andere Wissenschaftlerin stützt seine These. Grüne, CDU und SPD zeigten sich davon wenig beeindruckt: „Sie gehen nicht davon aus, dass sich der Landtag durch die Reform signifikant vergrößern wird“, wird referiert. Selbst wenn es „nur“ 30 weitere Parlamentarier gäbe, beliefen sich die Mehrkosten laut Rechnungshof immer noch auf fast 100 Millionen Euro, bei lediglich acht wären es 25 Millionen.
Prüfer monieren Schübe beim Personalzuwachs
Mehrere Kostenfaktoren haben die Prüfer um die inzwischen pensionierte Vizepräsidentin Ria Taxis – sie galt bei dem Thema als sehr engagiert – in den Blick genommen: die Mehrausgaben für Mitarbeiter, für Leistungen an Abgeordnete und für beider Unterbringung. Größter Posten wären, mit bis zu 109 Millionen Euro, die Mehrausgaben für die Parlamentarier – vor allem für die Diäten von derzeit 8878 Euro monatlich, aber auch Altersversorgung, Gratis-Bahnfahren und IT-Ausstattung. An zweiter Stelle folgt, mit 85 Millionen Euro, das zusätzliche Personal. Die Rückschau stimmte die Kontrolleure nicht sehr optimistisch: seit 2016, also dem Beginn der Amtszeit von Präsidentin Muhterem Aras (Grüne), sei die Stellenzahl um 95,5 auf 311 gestiegen, einschließlich dem Parlamentarischen Beratungsdienst – ein Plus von 44,3 Prozent. Jeweils zu Beginn der Legislaturperiode habe es einen kräftigen Schub gegeben. Die Zahl der Abgeordneten nahm im gleichen Zeitraum ungleich geringer zu. Gehe der Aufwuchs so weiter, befanden Taxis & Co, lägen 124 neue Stellen „im Bereich des Möglichen“.
Eher nachrangig erscheinen angesichts dieser Dimensionen die Mehrausgaben für die Unterbringung von Abgeordneten und Mitarbeitern. Benötigt würden laut den Prüfern bis zu 93 zusätzliche Büroräume, für die über die Periode 2,2 Millionen Euro zusätzliche Mietausgaben anfielen. Dazu aber kämen – nur schwer bezifferbare – Kosten für bauliche Veränderungen des Landtags. Der Plenarsaal reiche nämlich nur für insgesamt 160 Parlamentarier, also gerade mal sechs mehr als derzeit. Was dann? Die vorhandenen Räume sollten bestmöglich genutzt werden, ein Ausweichquartier fürs Plenum sei zu vermeiden, empfehlen die Prüfer. Dann folgen eher kleinteilige Tipps: Abgeordnete sollten künftig auch auf der Regierungsbank sitzen können, Minister und Staatssekretäre umgekehrt keinen weiteren Platz mehr im Saal haben. Das schaffe etwas Spielraum, ebenso wie geteilte Schreibtische und mehr Homeoffice. Der übergreifende Appell an den Landtag bleibt eher allgemein: „Der Rechnungshof empfiehlt, die möglichen Auswirkungen der Wahlrechtsreform realistisch einzuschätzen, zu beziffern und notwendige Schritte rechtzeitig einzuleiten, um die Auswirkungen möglichst gering zu halten.“
Respekt vom politischen Gegner
Auch der FDP-Abgeordnete Brauer hatte die Mehrkosten mit einer Anfrage ans Finanzministerium zu ermitteln versucht. Für seine Konsequenz bekam er nun sogar Beifall vom politischen Gegner: Der einstige SPD-Wahlkreisabgeordnete Nikolaos Sakellariou zollte ihm „Hochachtung dafür, dass Sie aus Protest über das neue Landtagswahlrecht auf eine erneute Kandidatur verzichten“. Das sei ein „ungewöhnlicher Schritt“, zumal der Liberale für die Liste gute Chancen gehabt hätte. Leider, verblieb Sakellariou, habe sich seine Partei bis auf eine Ausnahme „an dieser falschen Entscheidung beteiligt“.