Der Verband der Berufsschullehrer hat vor Pädagogenmangel und Unterrichtsausfall im neuen Schuljahr gewarnt – IHK und Opposition sehen das ebenso.

Stuttgart - Ein Jahr nach dem Machtwechsel in Baden-Württemberg rücken die beruflichen Schulen immer mehr ins Abseits der Bildungspolitik.“ Das befürchtet Margarete Schaefer, die Vorsitzende des Berufsschullehrerverbands (BLV). Schüler müssten bangen, ob sie einen Platz bekämen. Allein für das kommende Schuljahr fehlen nach Berechnungen des BLV 1100 Lehrerstellen. Von den 700 Stellen, die in diesem Jahr frei wurden, wurden laut Schaefer bisher nur 160 ausgeschrieben, nur noch 200 weitere sollen im Juli folgen. Die Schulen werden im Ungewissen gelassen, wie viele Unterrichtsstunden im nächsten Jahr zur Verfügung stehen. Sie könnten aber nur Schüler aufnehmen, wenn sie sicher sein könnten, dass sie auch die Lehrer dafür hätten. Referendare würden in andere Bundesländer abwandern, die Privatschulen boomten. Nach wie vor liege das strukturelle Unterrichtsdefizit bei vier Prozent.

 

Einzelne berufliche Gymnasien würden wegen der personellen Unsicherheit keine Eingangsklassen bilden, sagte Schaefer. Dabei sollten dort zusätzliche Klassen entstehen. Das Vorhaben mehr sechsjährige berufliche Gymnasien anzubieten, sieht Schaefer jedoch nicht gefährdet.

Berufsschullehrer erinnern Grün-Rot an Versprechen

Die Vertreter der beruflichen Schulen hatten nach der Enquetekommission zur beruflichen Bildung 2010 von SPD und Grünen etwas ganz anderes erwartet. Beide damaligen Oppositionsparteien hatten erklärt, sie wollten in der neuen Legislaturperiode das strukturelle Unterrichtsdefizit vollständig und die Überstundenbugwelle schrittweise abbauen. SPD und Grüne hatten 2010 die CDU/FDP-Regierung aufgefordert, in den nächsten drei Jahren jeweils 400 zusätzliche Lehrer einzustellen. Jetzt, da Grüne und SPD regieren, fordern die Berufsschullehrer sie „eindringlich“ auf, dies nun auch umzusetzen.

Das Kultusministerium betont, man unternehme große Anstrengungen, um die Lage zu verbessern. Man wolle alle frei werdenden Stellen im System halten. Das strukturelle Defizit sei bereits von 4,4 auf 4,1 Prozent gesunken. Zunächst sei abzuwarten, wie sich die Anmeldungen der Schüler genau entwickeln, erklärte Ministerin Gabriele Warminski-Leitheußer (SPD). Ende Mai werde man mehr wissen. Das Ministerium geht davon aus, dass 400 Stellen wissenschaftlicher Lehrer frei werden, nicht 700, wie der Verband sagte.

Der Landeselternbeirat verlangt ebenso wie die oppositionelle CDU, dass alle frei werdenden Lehrerstellen sofort wieder besetzt werden. Für die Umsetzung der Enquete-Empfehlungen seien weitere Deputate notwendig. Die FDP vermutet, die Regierung vernachlässige die beruflichen Schulen zu Gunsten „ihres Lieblingsprojekts Gemeinschaftsschule“.

SPD: Wir wollen grundsätzliche Konsolidierung

Die SPD versichert, man setze sich für eine grundsätzliche Konsolidierung der beruflichen Schulen ein. Die Ressourcen müssten den Schülerzahlen folgen. Die Grünen nannten die Reduzierung des strukturellen Unterrichtsdefizits ein vorrangiges Ziel der Bildungspolitik. Das Ministerium müsse die Schülerzahlen neu berechnen. Die Berufsschullehrer hatten kritisiert, dass in diesem Schuljahr 5000 Schüler mehr gekommen waren, als die Statistiker prognostiziert hatten.

Die Wirtschaft stellt sich hinter die Forderungen des BLV. Dieter Hundt, der Präsident der Arbeitgeberverbände im Land, warnte die Regierung davor, die beruflichen Schulen „als Steinbruch für teure und prestigeträchtige Bildungsexperimente zu missbrauchen“. Die Koalition müsse ihr Versprechen einlösen und das strukturelle Defizit abbauen. Berufsschulen mit einem verlässlichen Unterrichtsangebot seien unverzichtbar, um die Attraktivität des dualen Systems zu steigern. „Das Kultusministerium verzettelt sich in zu vielen Einzelprojekten und droht, den Blick für das Wesentliche zu verlieren“, kritisierte Hundt.

Durch die Vernachlässigung der beruflichen Schulen verunsichere die Ministerin auch die Betriebe, sagte Herbert Müller, der Präsident der IHK Region Stuttgart. Es wäre ein Irrweg, das duale System zu schwächen. Landeshandwerkspräsident Joachim Möhrle nannte die beruflichen Schulen die Stiefkinder der Bildungspolitik. „Wenn die Unterrichtsversorgung an allgemeinbildenden Schulen so schlecht wäre wie an den Berufsschulen, dann würden auch Politiker längst Sturm laufen.“