Das Atomkraftwerk Neckarwestheim II muss spätestens 2022 abgeschaltet werden – wird da vielleicht an der Sicherheit gespart? Ein Blick hinter die Kulissen bei den jährlichen Wartungsarbeiten.

Neckarwestheim - Schon verständlich, dass die Mitarbeiter im weitläufigen Gelände des Atomkraftwerks Neckarwestheim mit Dienstfahrrädern unterwegs sind. Aber seltsam mutet es an, dass die meisten ihre Räder mit Schlössern verriegeln – wer sollte hier stehlen? Wie sollte man ein geklautes Rad aus dem mit einem hohen Zaun und Sicherheitsschleusen abgeriegelten Gelände herausbugsieren? „Jeder hat sein Lieblingsfahrrad, seine Sattelhöhe individuell eingestellt“, erklärt Angela Brötel, Pressesprecherin des Energieversorgers EnBW, der Neckarwestheim betreibt. Brötel ist mit Christoph Heil, dem Chef der Kernkraft GmbH bei der EnBW und zwei Journalisten auf dem Gelände unterwegs, um einen Blick hinter die Kulissen bei den jährlich anstehenden Wartungsarbeiten zu werfen.

 

Neckarwestheim, genauer gesagt der seit 1989 laufende Kraftwerksblock II – der alte Block I ist abgeschaltet –, ist ein Powerhouse. Er hat eine Leistung von 1400 Megawatt, was man auch mit rund zwei Millionen PS übersetzen könnte. Er deckt mit seiner erzeugten Elektrizität ein Sechstel des Strombedarfs in Baden-Württemberg. Aber der Countdown läuft. Ende 2022 ist Schluss, dann wird im Rahmen des Atomausstiegs der Reaktorblock abgeschaltet.

Sechs Jahre Betrieb also noch, wird da vielleicht an der Sicherheit gespart? Lohnen sich neue Investitionen etwa in den Strahlenschutz? Wie wirkt sich der Wartungsskandal vom Frühjahr aus, den die EnBW selbst angezeigt hatte, weil zwei Mitarbeiter der US-Firma Westinghouse bei Revisionsarbeiten im Kernkraftwerk Philippsburg offenbar die Prüfungen radiologischer Messeinrichtungen nur vortäuschten?

Schon im Eingangsbereich der Atomanlage Neckarwestheim ist die Atmosphäre der 80er Jahre spürbar, sie klebt an den Räumen. Das wird auch so bleiben, warum sollte hier für sechs Jahre noch etwas erneuert werden? Ocker gekachelte Flure, blaue Waschbecken in den Sanitäranlagen. Durch einen dreieckigen Hochgang – Spitzname Toblerone – geht es zum Doppelherz der Anlage: zum kugelförmigen Reaktorblock und zum Maschinenhaus.

Eine Mischung von Guantánamo und Hallenbad

Links schweift der Blick auf eine Baustelle und damit in die Zukunft: Da wird auf dem Gelände des abgerissenen Kühlturms von Reaktorblock I ein Reststoffbearbeitungszentrum gebaut, wichtig für die Materialverwertung beim geplanten Rückbau der Atommeiler Neckarwestheim. Dass der alte Kühlturm weg sei, sagt der Ingenieur Heil, darüber sei er ganz froh – wegen der gebannten Brandgefahr, denn der Turm habe zum größten Teil aus Holz bestanden.

Der Zugang zum Reaktorblock wird den Besuchern verwehrt. Auch dort findet die Revision statt, und mit Hilfe eines fahrbaren Krans werden dieses Jahr 20 der insgesamt 193 Brennelemente ausgetauscht. Der Betondeckel des Reaktordruckbehälters wird zu diesem Zwecke geöffnet – ein stundenlanger Prozess im gefluteten Reaktor. Sichtbar ist immerhin der Schleusenzugang zum Atomreaktor, Kontrollbereich genannt. Männer in Badelatschen, halbnackt und geschützt nur mit orangefarbenen Umhängen passieren hier die Sicherheitsschranken, sie tragen Dosimeter. Jenseits der Grenze ziehen sie ihre Schutzkleidung an. Die Szenerie erinnert an eine Mischung von Guantánamo und Hallenbad – beklemmend. „Bitte hier nicht fotografieren“, sagt Christoph Heil.

Was denken die Mitarbeiter über das Atomkraftwerk?

Locker ist die Atmosphäre hingegen im Maschinenhaus, im Prinzip eine Fabrikhalle, in der die 55 Meter lange und 225 Tonnen schwere Turbinenanlage wie ein schlafender Riesenalligator liegt – rot gestrichen. Hier wird der 290 Grad heiße Dampf aus den Dampferzeugern auf eine kleine Hochdruckturbine (63 Bar) und die zwei großen Niederdruckturbinen (14 Bar) geleitet. Dabei wird die Wärme in mechanische Energie umgewandelt, mit der ein angeschlossener Generator betrieben wird – ein riesiger Dynamo, der den begehrten Strom liefert. Jetzt aber ist die Anlage stillgelegt, Maschinenteile und Apparaturen sind ausgebaut und werden wie Baustellen mit weiß-rotem Flatterband umzäunt, eine Leiter führt in den freigelegten Keller unter der Hauptturbine. Die Firma Siemens hat gleich einen Baucontainer in die Halle gestellt mit eigener Kaffeemaschine, Aktenschrank und Schreibtischen.

900 Mitarbeiter von Fremdfirmen sind bei der Wartung im Einsatz, sie arbeiten im 24-Stunden-Betrieb, denn jeder verlorene Betriebstag ist extrem teuer für die EnBW. So teuer, dass der Konzern die Zahl aus Wettbewerbsgründen nicht nennen will. Offiziell hat sich auch die EnBW von der Atomkraft verabschiedet, wenngleich sich auf ihrer Website noch Sätze finden wie dieser: „Bleibt es bei dem angekündigten Ausstieg aus der Kernenergie, verstärkt das den Bedarf an Ersatzkapazität noch zusätzlich.“ Es wird beim Ausstieg bleiben – das ist politischer Konsens in Deutschland. Aber inoffiziell stehen die Arbeiter in Kernkraftwerken – 1600 EnBW-Leute arbeiten in Neckarwestheim, Philippsburg und Obrigheim – natürlich loyal zu dieser Technik. Auf die Frage, ob er es schade fände, wenn 2022 endgültig Schluss sei, sagt ein Siemens-Mitarbeiter im Blaumann: „Auf jeden Fall. Wissen Sie, ich bin seit der Eröffnung von Neckarwestheim II 1989 dabei.“

Atomkraft birgt Risiken, Atomkraft ist teuer – gewiss. Und auch die Kritik am Baubeschluss für ein neues Kernkraftwerk in Großbritannien – Hinkley Point C mit 3200 Megawatt aus zwei Reaktoren – entzündet sich vor allem an den hohen Kosten. Aber immer noch fasziniert diese Technik, wie quasi aus dem Nichts ein Zwei-Millionen-PS-Motor sich in Bewegung setzt, diejenigen, die mit ihr arbeiten. Ja, sagt ein EnBW-Ingenieur im Maschinenhaus, das sei für ihn stets ein „ergreifender Moment“, wenn die 12,5 Megawatt starke Hauptspeisewasserpumpe (ein ICE-T 415 fährt mit drei Megawatt Dauerleistung) wieder angefahren werde und das Kraftwerk nach vier Wochen der Revision wieder anlaufe: „Da flackert das Licht in der Halle, so viel Strom wird gezogen.“

Das Speisewasser ist sozusagen das Lebenselixier eines Atomkraftwerkes, es wird mit 220 Grad in die Dampferzeuger geleitet, kommt als 290 Grad heißer Dampf wieder heraus und treibt die Turbinen an. Auch bei Christoph Heil ist ein bisschen Endzeitstimmung vorhanden – ablesbar in seinen Worten. Er berichtet von der „vorbeugenden Instandsetzung“ und dass man erstens Ersatzteile in einer eigenen Werkstatt herstelle, zweitens aber die meisten auch bis „End of Life“ im Jahr 2022 auf Lager habe. Ende des Lebens, „End of Life“, ob dass jetzt politisch korrekt sei, fragt Heil dann laut nachdenkend sich selbst. Und: „Ich sage das jetzt mal so.“

Mit der Kehrrichtschaufel an der Turbine

Bilanz einer Wartung: 3000 Tätigkeiten werden vorgenommen, dokumentiert mit Prüfauftrag, Protokoll über jeden Schritt. Tüv-Leute sind da, im Strahlenbereich auch Kontrolleure vom Umweltministerium. An Pinnwänden hängen die Zeichnungen von Bauteilen. In Neckarwestheim II werden drei Speisewasserpumpen grundüberholt, das Innere des Speisewasserbehälters wird untersucht, vier Hauptkühlmittelpumpen werden geprüft, drei Transformatoren ausgetauscht – unter anderem. Ein Augenmerk wird auf Dichtungen gelegt, sie sind verschleißanfällig, ob aus Grafit, Kunststoff oder Gummi.

Bei aller Hochtechnologie, gelegentlich erinnern die Szenen im Maschinenhaus an die schwäbische Kehrwoche: Da poliert ein Monteur ein gelbes Turbinenteil mit einem Putzlumpen, und ein Arbeiter läuft tatsächlich mit Handbesen und Kehrichtschaufel rum. Ja, es falle durch das viele Dichtungsmaterial auch Staub in dem Maschinenhaus an, sagt Christoph Heil.

Alle Skepsis wegen des jüngsten Skandals weist der Chef der Atomenergie übrigens zurück: Es habe die Täuschungsvorwürfe gegeben im AKW Philippsburg, es laufe nun ein arbeitsgerichtliches Verfahren gegen die zwei Mitarbeiter des Dienstleisters – dessen Namen Heil nicht nennt: „Aber wir haben keine Zweifel an der Integrität dieses Dienstleisters.“ Seit Jahren arbeite man mit ihm zusammen. Die Staatsanwaltschaft Karlsruhe ermittelt übrigens wegen Philippsburg gegen die zwei Mitarbeiter von Westinghouse, ein Konzern der weltweit 13 500 Leute beschäftigt. Es geht um einen Betrugsvorwurf, aber nicht um Sicherheitsfragen. Leistungen sind offenbar abgerechnet worden, obwohl sie nicht erbracht worden sind. Christoph Heil verneint streng die Frage, ob an der Sicherheit jetzt im Endspurt nicht doch gespart werden könne: „Bei uns geht Sicherheit vor Wirtschaftlichkeit.“ Man investiere auch neu, etwa in eine bessere und sichere Hydraulik im „Anfahrvorgang“.

Auf die Frage, was ihre Lieblingskraftwerke im Konzern seien, nennt die Pressesprecherin Angela Brötel das moderne Kohlekraftwerk RDK 8 in Karlsruhe, dessen Bau sie mitverfolgt habe. Und eine Windkraftanlage im Saarland, auf der Instagramer in 140 Meter Höhe fantastische Aufnahmen mit einer Drohne gemacht hätten. Ein Atomkraftwerk ist nicht dabei.