Dorfmärkte in der Region Stuttgart Tante Schütz gibt nicht auf
Dorfmarkt – das klingt nach heiler Welt. Doch so ein Markt ist harte Arbeit. Zu Besuch in einem ganz besonderen Geschäft in Unterriexingen, wo es für Nostalgie keinen Platz gibt.
Dorfmarkt – das klingt nach heiler Welt. Doch so ein Markt ist harte Arbeit. Zu Besuch in einem ganz besonderen Geschäft in Unterriexingen, wo es für Nostalgie keinen Platz gibt.
Markgröningen - Sigrid Schütz kann sagen: „Ich bin Verkäuferin.“ Sie verkauft Lebensmittel, Zeitschriften, Reißverschlüsse und vieles mehr. Würde Sigrid Schütz sagen, sie sei Controllerin, wäre das auch wahr. Sie kennt alle Zahlen in diesem Laden, und es ist ihre Verantwortung, dass sie nicht allzu schlecht aussehen. Personalchefin könnte sich Sigrid Schütz auch nennen. Jeden der zehn Minijobber hier hat sie eingestellt, keine Schicht gibt es, die sie nicht selbst einteilt. Die Bezeichnung, die auch sehr gut passen würde, gibt es nicht als Beruf. Aber würde Sigrid Schütz sagen: „Ich bin Ladenhüterin“, wäre das im besten Sinne wahr.
Die 61-Jährige ist die Hüterin des einzigen Nahversorgers in Unterriexingen. Wer Unterriexingen kennt – ein Teilort von Markgröningen, 2400 Einwohner – weiß, wie besonders es ist, dass es so einen Laden gibt. Wer den Dorfmarkt Schütz kennt, weiß, dass es noch viel besonderer ist, dass es diesen Laden überhaupt noch gibt. Fast 130 Jahre ist er alt, Sigrid Schütz ist darin groß geworden und führt ihn nun in der vierten Generation.
Geschichten von solchen Geschäften laufen Gefahr, kitschig zu werden oder zumindest sentimental. Weil es nicht mehr viele von ihnen gibt, weil es so schwierig geworden ist für einen Kleinen gegen die Großen zu bestehen. Aber wenn es in diesem 250 Quadratmeter großen Laden, wo 10 000 Artikel in den Regalen stehen, für etwas keinen Platz gibt, dann für Kitsch und Sentimentalität.
Mittwochmorgen. Sigrid Schütz ist seit halb acht im Laden. Das Obst – eingeräumt; die Zeitungen– sortiert; die Kasse– bereit. Trotzdem wird die Zeit schon wieder knapp. Um 10 Uhr muss die Bestellung raus sein. Sonst schickt der Edeka-Lieferant am Freitag keinen Golden Toast, keine Bananen und keinen Wodka Gorbatschow, der gerade im Angebot ist. Am Donnerstag das gleiche Spiel, nur dass Sigrid Schütz dann die Ware für Montag bestellen muss.
Dabei weiß sie doch gar nicht, was am Wochenende weg geht – oder was am Freitag tatsächlich geliefert wird. Auf die Hamburger-Brötchen zum Beispiel wartet sie seit drei Wochen. So wie sie auch schon mal eine kleine Ewigkeit auf Sonnenblumenöl der Hausmarke Gut & Günstig warten musste oder auf Altmeister-Essig. Oder die Sache mit dem Paprika: Bestellt hat sie 32 Päckchen in edelsüß, gekommen ist: rosenscharf. Das ist nicht so gefragt. Doch neu ordern ist doof, dann geht der rosenscharfe gar nicht mehr weg. „Man muss taktisch bestellen“, hat Sigrid Schütz gelernt. Warum der Einkauf so kompliziert geworden ist, hat sie allerdings bis heute nicht durchschaut.
Früher ging das so: An einem Tag ging die Bestellung raus, am nächsten Tag kam die Ware. Zeit war bis 16 Uhr. Aber früher kam ja auch noch ein Vertreter, der die Regale ein- und ausgeräumt und die frische Ware mit der abgelaufenen verrechnet hat. Inzwischen macht Sigrid Schütz alles selbst. „Ich habe noch nie so viel geschafft wie in den letzten zwei Jahren“, sagt die 61-Jährige, die noch nie wenig geschafft hat.
Sigrid Schütz hat den Dorfmarkt an der Unterriexinger Hauptstraße 1998 von ihrer Mutter Maria übernommen. Sigrid Schütz ist eigentlich Webmeisterin, sie hat viele Jahre mit Menschen in beschützenden Werkstätten gearbeitet. In den Laden kam sie, weil es ihrer Mutter nicht so gut ging. Bleiben wollte sie nur so lange, bis ihre jüngste Schwester die Geschäfte führen würde. Karin hat ja extra Einzelhandelskauffrau gelernt. Doch dann entschied sich Karin für die Familie – und Sigrid Schütz für den Laden. Wenn man so will, war auch das eine Entscheidung für die Familie.
Der Laden, mit dem die Geschichte der Ladenhüter Schütz in der Hauptstraße beginnt, war 17 Quadratmeter groß. Durch das Dorf watschelten damals, anno 1892, noch Gänse, zur Erntezeit gab es schulfrei. Unterriexingen hatte ein paar Hundert Einwohner, es gab sieben Läden plus einen Bäcker plus einen Metzger. Der Laden war ein Stubenladen. Weil das Geschäft in der Stube war, in der Wohnung also. Dort, wo heute die Kekse stehen, war früher die Küche. Im Stubenladen gab es Wagenschmiere und Peitschen für die Pferde. In großen Schubladen war Mehl gelagert, Gries, Nudeln und Linsen. Das Öl kam aus Kannen, der Essig aus Fässern, und nebenbei nähte die Inhaberin, Sigrid Schütz‘ Urgroßmutter Katharina, Röcke für die Kundschaft und zog sechs Kinder groß.
Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es nur noch einen einzigen Laden in Unterriexingen: den der Familie Schütz. Vier Mal ist er umgebaut worden, zum letzten Mal 1985. Damals wuchsen die beiden Gebäude mit den Nummern 32 und 34 zusammen. Es war eine schwere Entscheidung. Würde sich die Investition lohnen? Die Familie hat es riskiert. Seither müssen die Kunden das eine Gebäude nicht mehr verlassen, wenn sie was brauchen, das im anderen steht. Jetzt können sie den Wagen bequem von den Schreibwaren am einen Ende des Ladens zum Kaffee am anderen Ende schieben. „Das war die richtige Entscheidung“, sagt Maria Schütz, die inzwischen 86 ist, und noch immer mit schafft. Sie erledigt die Buchhaltung, und jeden Mittag sitzt sie an der Kasse. „Ich hab’s verpasst in den Ruhestand zu gehen“, sagt sie, die bereits mit 13 Jahren die Bücher für die Mutter Sofie geführt hat. Selbst nach dem Überfall an Pfingsten 2005, bei dem sie schier verblutet ist, kam Maria Schütz weiter in den Laden. „Wo gibt‘s Klopapier“, will ein Kunde wissen. „Hinten links“, antwortet Maria Schütz und weist den Weg.
Im Dorfmarkt Schütz gibt es längst Erbsen in Dosen und Milch ohne Lactose, in den Kühltruhen sind gefüllte Cannelloni und gemischte Beeren gestapelt, es gibt Ajvar, mehrere Sorten Pesto und sogar Bulgur. Trotzdem wäre es kein bisschen unpassend, würde von irgendwoher Udo Jürgens erklingen, wie er singt: „Bei Tante Emma ist’s privat, sie ist kein Warenautomat.“
Bis vorigen Sommer konnten die Unterriexinger schmutzige Kleidung im Dorfmarkt abgeben. Eine Reinigung aus Markgröningen hat sie abgeholt und gesäubert wieder gebracht. Doch der Stopp am Dorfmarkt lohnte sich nicht, er wurde gestrichen. Zunächst hat Sigrid Schütz die Wäsche noch selbst hin- und hergefahren. So wie sie auf eigene Faust Vogelfutter besorgt, weil so was im Frühjahr und Sommer nicht geliefert wird. Aber genau dann ist die Nachfrage danach groß. Oder so: Sigrid Schütz hat Maggi Fix aus ihrem Sortiment gestrichen. Die Unterriexinger stehen mehr auf Knorr Fix. Blöd nur, wenn im Edeka-Prospekt die Päckchen von Maggi Fix im Angebot sind. Sigrid Schütz bietet dann Knorr Fix zum Sonderpreis an. So zahlt sie zwar drauf, aber ihre Kunden nicht. „Besser so als anders.“ Den Kurierdienst zur Reinigung hat Sigrid Schütz trotzdem eingestellt. Letztlich hat er auch sie zu viel Zeit gekostet.
Den Paketshop, den gibt es noch. Wenn die Unterriexinger Pakete abholen oder zurücksenden, kaufen sie vielleicht auch gleich noch was ein, was sie sonst vielleicht beim Edeka in Markgröningen kaufen würden oder beim Rewe in Sachsenheim, oder bei einem der Lidls und Aldis, die es überall gibt. „Uns fehlen die jungen Mütter“, sagt Sigrid Schütz. Früher, als Mütter nach der Geburt der Kinder noch drei, vier, fünf Jahre zuhause geblieben sind, war Schütz die erste Adresse. Heute bleibt kaum noch jemand so lange daheim, und Einkäufe werden unterwegs erledigt.
Handel ist Wandel, heißt es in der Branche. Und: Wer nicht mit der Zeit geht, geht mit der Zeit. Aber wie kann sich ein Laden wie der Unterriexinger Dorfmarkt groß wandeln? Es gibt frisches Brot vom Müller, es gibt Wurst vom hiesigen Metzger. Wer ein Buch bestellt, kann es am nächsten Tag abholen. Eigentlich gibt es bei Sigrid Schütz nichts, was es nicht gibt. Außer eben genug Kunden. 200 sollten es am Tag sein, hat Sigrid Schütz ausgerechnet. Tatsächlich kommen im Schnitt nur 150. Und die wenigsten von ihnen erledigen im Dorfmarkt einen Großeinkauf.
Eine kleine Sitzecke wäre gut. Ein Platz, wo die Unterriexinger Kaffee trinken können und ein süßes Stückle essen. Nur wo genau? Für alles, was dazu kommt, müsste ja was anderes weg. Abwarten, die Ladenhüterin wird weiter nachdenken, bis sie die passende Idee hat. Und wer weiß, vielleicht kommt die Zeit wieder, in der alle Unterriexinger das Glück schätzen, das sie haben.
Sigrid Schütz ist jetzt 61 Jahre. Urlaub bedeutet für sie, dass der Laden in den Sommerferien dienstag- und mittwochmittags zu ist. Hobby ist etwas, was es für Sigrid Schütz nicht mehr gibt. Früher ist sie drei Mal die Woche joggen gegangen. Seit sie sechs Werk- und zwölf-Stundentage hat, bleibt dafür keine Zeit. „Seit ich den Laden übernommen habe, habe ich 30 Kilo zugenommen“, sagt Sigrid Schütz. Und, dass man nicht reich wird dabei. Und, dass sie weitermachen will, so lange es geht. Weil sie eben auch an dem Laden hängt, wie sie sehr nett lächelnd sagt. Und an den Kunden.
Es gibt Tage, da bestellen die Kunden ihre Ware telefonisch. Weil sie sich bei Wind und Wetter nicht vors Haus wagen. Es gibt Tage, gerade jetzt, da kaufen die Kunden so viele Pflanzen und Erde, dass sie sie nicht tragen können. Sigrid Schütz liefert dann frei Haus. Und es gibt Tage, da haben Kunden den Gelbeutel vergessen. Sie dürfen dann anschreiben, natürlich.
Wird Sigrid Schütz, dies zum Abschluss, gefragt, was sie von Beruf ist, antwortet sie: „Ich bin die Tante Emma von Unterriexingen.“ Nach allem aber, was man weiß, wäre es wohl nicht vermessen, würde sie sagen: „Ich bin die Tante Schütz.“