Konstanze Brockmann liest ihren Zwillingen viel vor. Als die Kinder in die Schule kamen und Interesse an langen Geschichten entwickelten, fand ihre Mutter fast nur kurze. Statt Vorlesegeschichte an Vorlesegeschichte zu reihen, wollten die drei dem Fortgang einer Handlung entgegenfiebern. „Wir haben dann alle Klassiker durchgehampelt“, sagt sie. Mit Ausnahme der bekannten Kinderbücher von Astrid Lindgren oder Otfried Preußler entdeckte Brockmann kaum längere, fantasiereiche Geschichten, die ihr für das Alter angemessen schienen, und die sie gern vorlas. „Da gab es wenig Auswahl.“

 

Der Altersgruppe ab sechs Jahren werden Bücher zum Selberlesen angeboten, die Rücksicht auf geringe Lesekompetenz nehmen: Ihre Schrift ist groß, die Geschichten kurz, die Illustrationen explizit. Die Idee entstand Anfang der achtziger Jahre. Mittlerweile gibt es eine Vielzahl von Erstlesereihen, die Kinder bis in die dritte Klasse begleiten. Die Bücher sind mehr Lesehäppchen als Menü, fürs Vorlesen nicht gemacht und selten dafür geeignet. „Da sind selbst die Kinder oft gelangweilt“, sagt Brockmann. Selbst unterhaltsame, clever gemachte Erstlesebücher sind meist kurz und an einem Abend ausgelesen.

Vorlesen zeigt, wozu lesen gut ist

Das Textverständnis von Leseanfängern übertrifft ihre Lesefähigkeit. Beim Zuhören verstehen sie Sprachwitze, über die sie beim Lesen stolpern. Ist der Plot gut, kann die Geschichte nicht lang genug sein. Spricht sie Kinder an, wollen sie verstehen – und fragen nach. Es kann passieren, dass ein Kind beim Vorlesen überhaupt erst begreift, wozu lesen gut ist: um die tollsten Geschichten aus Papier zu ziehen. Womöglich liest es deshalb eines Tages ein Buch allein zu Ende.

Vor Jahren informierten Verlage die Händler mit Punkten, für welches Alter sich ein Buch eignet. Max Kruses „Urmel aus dem Eis“ hatte noch in der Ausgabe von 2005 einen Punkt, gedacht für Kinder ab sechs Jahren. Kaum jemand würde heute einem Leseanfänger die 150 Seiten als Lektüre zumuten, in denen Protagonisten mit erheblichen Sprachanomalien Dialoge führen und dabei Vokale oder Konsonanten vertauschen. Wird das Buch aber vorgelesen, kann gerade das große Erheiterung bei der Zielgruppe auslösen.