Alle reden davon, und doch herrscht ein eklatanter Mangel an Respekt. Doch was ist das eigentlich? Respekt hat nichts mit Gehorsam und Obrigkeitshörigkeit zu tun. Es ist ein universeller Anspruch auf Achtung, die allen gebührt.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - R

 

espekt ist gerade in aller Munde. Das heißt leider nicht, dass er überall in ausreichendem Maße vorhanden wäre. Viele reden jedoch darüber – freilich häufig ohne genau zu wissen, was damit eigentlich gemeint ist.

Respekt gebietet der Einsatz von Millionen Pflegekräften und Medizinern, seitdem Corona die Welt im Griff hat. Respekt verlangt auch die (oft schlecht bezahlte) Arbeit vieler anderer Leute, welche mit dem Eigenschaftswort „systemrelevant“ nur sehr abstrakt gewürdigt wird. Respekt erheischen schwierige Entscheidungen der Politik in einer solchen Lage, für die es nirgendwo eine Blaupause gibt – das gilt aber beileibe aber nicht für alle politischen Entscheidungen dieser Zeit. Respekt reklamieren zum Beispiel Polizisten, an denen manche ihren Corona-Frust austoben. Respekt vermissen Menschen viel zu oft mit Recht, weil sie wegen ihrer fremden Herkunft, ihrer Hautfarbe, Kultur oder Religion gedemütigt werden. Und seit einer Woche wird unablässig über mangelnden Respekt vor dem Reichstagsgebäude diskutiert, weil eine pöbelnde Horde fahnenschwenkender Demonstranten die Treppe gestürmt hatte.

Der inflationäre Gebrauch dieses Wortes vermittelt allein keinen Sinn

Doch wer entscheidet, wann Respekt geboten wäre, wie er sich äußern sollte – oder was das überhaupt heißt: Respekt? An der Fassade des Stuttgarter Rathauses hängt gerade ein großes, blaulichtfarbenes Banner, das Respekt für Polizisten und Rettungskräfte einfordert. Sie seien prompt „zur Stelle, wenn Gefahr droht“, so der Oberbürgermeister Fritz Kuhn, „leider sind sie selbst regelmäßig respektlosem Verhalten, Bedrohungen oder sogar gewaltsamen Übergriffen ausgesetzt.“ In der Champions League wird auf den Trikots der Fußballspieler und in den Halbzeitpausen für „Respect“ geworben. Die Kampagne gibt es schon seit 2008. Sie setzt sich gegen Rassismus, für Rücksicht auf behinderte Fans und einen „interkulturellen Dialog“ am Spielfeldrand ein.

Damit nicht genug des Respekts. Die inzwischen beschlossene Grundrente sollte nach Vorstellung der Sozialdemokraten ursprünglich einmal Respektrente heißen. Nicht alle reden jedoch respektvoll davon. Auch die Baumarktkette „toom“ bedient sich dieses imposanten Schlagworts. Sie nutzt es in ihrem Werbeslogan. Und in den Supermarktfilialen von Edeka heißen Ökoprodukte so, vom Spülmittel bis zum Kloreiniger - weil angeblich „die Umwelt respektiert“, wer sie kauft. Der inflationäre Gebrauch dieses Begriffs vermittelt allein aber noch keinen Sinn. Vielleicht wird Respekt dadurch gar entwertet?

Respekt meint zuallererst: Rücksicht

Das sollten Wissenschaftler zu bewerten wissen, die sich dem Respekt verschrieben haben. An der Hamburger Universität gibt es tatsächlich eine Respect Research Group. „Respekt ist als Begriff mehrdeutig, vielschichtig, unpräzise, bisweilen sogar widersprüchlich“, sagt deren Gründer Tilman Eckloff, Professor für Wirtschaftspsychologie. „Der Begriff wird leider oft unpräzise benutzt”, bekräftigt dessen Kollege Niels van Quaquebeke, der die Gruppe inzwischen leitet. Jemand der zum Beispiel sagt, er habe Respekt vor Kampfhunden, meine eigentlich Angst. Ein Chef, der von seinen Mitarbeitern Respekt einfordere, meine Gehorsam. Ältere Menschen, die bei Jugendlichen fehlenden Respekt beklagten, ärgerten sich eher wegen mangelhafter Höflichkeit.

Was haben wir aber tatsächlich unter Respekt zu verstehen? Das Fremdwort ist lateinischen Ursprungs. Es leitet sich aus der Vokabel „respicere“ ab, was „zurückblicken“ bedeutet. Respekt meint also im unmittelbaren Wortsinn nichts Anderes als Rücksicht. Das klingt nach einer guten Sache. Respekt zählt aber nicht zum klassischen Katalog der Kardinaltugenden. Die „Encyclopedia of Philosophy“ bezeichnet Respekt als „wichtigen Baustein einer praktischen Moral“, sie sei „ein zentrales Konzept in vielen ethischen Theorien“. Respekt sei in psychologischer Hinsicht „eine Einstellung zwischen einem Subjekt und einem Objekt“, sagt der Respekt-Forscher Quaquebeke. „Er entsteht nicht, weil ihn jemand einfordert, sondern weil man selbst erkennt, dass Respekt die richtige Einstellung dem anderen Menschen gegenüber ist.“

„Wir können Feinde respektieren, ohne sie zu lieben“

Respekt bewegt sich zwischen den Polen Furcht und Unterwerfung auf der einen Seite sowie Bewunderung und Zuneigung auf der anderen – ist jedoch etwas Anderes als all dies. Respekt wird von Überzeugungen, Werturteilen und von Verhaltensmaßstäben beeinflusst, kann sich auf individuelle Eigenschaften wie Talente oder Charakter beziehen oder auf Errungenschaften wie Verdienste, Erfolge, soziale Positionen, Macht. Er kann sich auf sehr unterschiedliche Weise äußern: durch Komplimente, Verehrung, Ehrfurcht, zuvorkommendes Gebaren, höfliche Distanz. Respekt ist auf jeden Fall mehr als respektvolles Verhalten. Man kann ihn bekunden, ohne ihn zu fühlen.

„Wir können Feinde respektieren, ohne sie unbedingt zu lieben“, sagt der britische Philosoph Thomas E. Hill. Der amerikanische Soziologe Richard Sennett, der ein Buch über „Respekt im Zeitalter der Ungleichheit“ geschrieben hat, misst dieser Haltung „eine grundlegende Bedeutung für unser Erleben sozialer Beziehungen und unsere Selbsterfahrung“ bei.

Respektlosigkeit ist die vorherrschende Umgangsform in sozialen Medien

Respekt sei „keine Sache, nichts Festes“, so versucht die Bundeszentrale für politische Bildung Jugendlichen das Phänomen zu erklären. Er sei „Teil der Mikropolitiken des Alltags, in denen wir unsere eigenen sozialen Verhältnisse erfahren und gestalten“. Respekt schuldete man früher den Mächtigen. So kam es, dass Respektlosigkeit zeitweise für eine Art demokratische Tugend erachtet wurde. Manche, die sich für antiautoritär halten, denken das noch immer. Respektlosigkeit wurde in Kreisen mit dieser Gesinnung geradezu ein Erziehungsprinzip. Wer das für Fortschritt hält, verwechselt Respekt mit Gehorsam und Obrigkeitshörigkeit. Doch das ist ein Missverständnis. 83 Prozent bekennen sich laut einer aktuellen Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Civey zu demonstrativer Respektlosigkeit gegenüber der Polizei. Wobei es hier einen Widerspruch zu anderen demoskopischen Befunden ergibt, nach denen zwei Drittel der Bürger Vertrauen in die Polizei hätten.

Respektlosigkeit ist jedenfalls die vorherrschende Umgangsform in den sozialen Medien. Sie sind ein Biotop für eine Kultur der Rücksichtslosigkeit – „sozial“ nur in formaler Hinsicht, da sie Netzwerke herstellen, die unablässig dazu animieren, zu hypen oder zu verdammen. Die dort gewährten „Likes“ sind Werturteile, vermitteln aber nur in Ausnahmefällen auch Respekt. Sie dienen mehr der Selbstbespiegelung als der Rücksichtnahme auf andere. Der Schweizer Schriftsteller Thomas Meyer bringt es auf den Punkt: „Social Media machen dumm und frech.“

Respekt schert sich nicht um Verdienste oder Nutzen

Zurück zum Respekt: Philosophen unterscheiden eine vertikale und eine horizontale Dimension, in der er sich entfalten kann. Vertikaler Respekt kann einer Leistung gelten, wobei Leistungen unterschiedlich bewertet werden. Warum verdient etwa eine alleinerziehende Mutter, die ihren Lebensunterhalt als Putzfrau bestreitet, da die Arbeitszeiten es erlauben, sich um ihre Kinder zu kümmern, weniger Respekt als die Rekorde eines Profisportlers, der für seine Anstrengungen in astronomischer Höhe honoriert wird? Horizontaler Respekt meint die Achtung unter Gleichwertigen. Er schert sich nicht um Verdienste oder Nutzen, sondern beruht auf der Idee einer universellen Würde, die uns allen eigen ist, die niemand erwerben oder verlieren kann.

Das entspricht dem Kern der Ethik des Aufklärers Immanuel Kant. Moment, werden manche vielleicht jetzt einwenden: Kant, war der wirklich allen gegenüber respektvoll? An dieser Stelle ist auf Grund aktueller Debatten eine Klammer unerlässlich: Diese Debatten drehen sich um die Frage, ob Kant Rassist war. Die Frage bleibt umstritten. Kant hat Dinge geschrieben, die aus heutiger Sicht nicht anders als rassistisch zu verstehen sind. Das war vor 250 Jahren. Seine Ethik weist aber über jene Zeit weit hinaus. „Kant in unserem heutigen Sinn als Rassisten zu bezeichnen bedeutet nicht, ihn zum Vordenker des Kolonialismus oder gar der nationalsozialistischen Rassenideologie zu machen“, schreibt der Frankfurter Philosoph Marcus Willaschek, ein Kritiker des kantschen Rassismus. „Es bedeutet vielmehr, anzuerkennen, dass der herabsetzende Blick auf Menschen anderer Hautfarbe ein im achtzehnten Jahrhundert wie heute weitverbreitetes Phänomen ist, von dem selbst ein scharfsinniger Kritiker wie Kant sich nicht freimachen konnte.“ Sein moralphilosophischer Universalismus, der allen Menschen einen absoluten Wert zuerkennt, werde durch rassistischen Aussagen keineswegs entwertet. Was bleibt, ist die Erkenntnis, dass auch Kant nicht unfehlbar war. Damit können wir die Klammer wieder schließen.

„Jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung“

Das kleine Einmaleins des Respekts umschreibt Kant so: „Ein jeder Mensch hat rechtmäßigen Anspruch auf Achtung von seinem Nebenmenschen, und wechselseitig ist er dazu auch gegen jeden anderen verbunden.“ Achtung ist also nichts, was erst verdient werden muss. Wir schulden sie jedem Mitmenschen. Jeder und jede haben einen unbedingten und unvergleichlichen Wert aus sich selbst heraus. Diese Überzeugung lässt Rassismus keinen Raum. Und sie lässt eine Weltsicht engstirnig erscheinen, die vor lauter Identitäten die Menschheit und deren unteilbare Würde nicht mehr erkennt.

Kants Verständnis von Respekt zählt zum Erbgut liberaler Rechtsstaaten. Es spricht aus dem ersten Satz unseres Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar.“ Der zweite Satz verpflichtet den Staat und seine Organe, diese Würde stets zu achten und zu schützen. Es ist dort nicht von Deutschen oder Staatsbürgern der Bundesrepublik Deutschland die Rede, sondern ganz pauschal von Menschen. Es geht um die Würde aller Menschen. In dem Artikel eins des Grundgesetzes spiegelt sich der universale Anspruch auf Respekt, wie ihn Kant definiert hat – eine Garantie, auf die sich jeder und jede berufen können.

Respekt ist nicht mit Gehorsam oder Untertanengeist zu verwechseln

Dieses Versprechen ist „tragendes Konstitutionsprinzip und oberster Wert der Verfassung“, hat das Bundesverfassungsgericht klargestellt. Es gewährleiste jedem Einzelnen das Recht, Rechte zu haben – ein Recht, was für alle gleichermaßen gilt, was uns gleichberechtigt macht. Wem an diesem pauschalen Bekenntnis gelegen ist, der sollte auch Respekt für einen Staat aufbringen, der ihm solches garantiert. Respekt für den Rechtsstaat ist freilich eine sehr abstrakte Angelegenheit. Konkret bedeutet das auch Respekt für seine Institutionen, zu denen zum Beispiel die Polizei gehört.

Es verlangt Respekt auch vor denen, die den Rechtsstaat vertreten und ihn schützen – sofern sie ihn im Sinne des Grundgesetzes vertreten und dessen Werte schützen. Damit ist kein Respekt gemeint, der mit blindem Gehorsam oder Untertanengeist verwechselt werden könnte, sondern Stolz auf das, was die Verfassung verbürgt.