Was führte zum Aussterben der Neandertaler? Nahrungsmangel, Rivalitäten mit dem Homo sapiens, klimatische Veränderungen oder Krankheiten? In einer neuen Studie kommen Forscher zu dem Schluss, dass Neandertaler in isolierten Gruppen lebten, während es beim modernen Menschen mehr genetischen Austausch gab. Diese Inzucht könnte verhängnisvoll gewesen sein.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Das Leben des Neandertalers war hart, sehr hart. Der Frühmensch war den Launen der Natur ausgesetzt und musste gefährlichen Tieren wie Mammuts, Höhlenbären und Wollnashörnern nachjagen, um zu überleben.

 

Schlüsselfrage der Paläoanthropologie

Bis vor rund 42 000 gehörte Europa dem Homo neanderthalensis, der zwischen 450 000 und 40 000 die Steppen und Höhlen Süd-, Mittel- und Osteuropas bevölkerte. Der ausgestorbene Verwandte des heutigen Menschen entwickelte sich in Europa – parallel zum modernen Menschen in Afrika – aus gemeinsamen afrikanischen Vorfahren der Gattung „Homo“.

Nachbildung eines Neandertalers im Neandertalmuseum im nordrhein-westfälischen Mettmann. Foto: Imago/Rupert Oberhäuser

Neandertaler bewohnten Europa und Teile Asiens schon lange, bevor der moderne Mensch Afrika verließ. „Wann Neandertaler aus Eurasien verschwanden und wann der moderne Mensch ankam, ist eine Schlüsselfrage der Paläoanthropologie“, stellen die Paläontologen Thibault Devièse von der Oxford University und Grégory Abrams von der Universität Leiden fest. Doch welche Faktoren führten zum Aussterben des Homo Neanderthalensis?

Rotteten Bakterien und Viren den Frühmenschen aus?

Britische Wissenschaftler vermuten, dass Bakterien und Viren, die vor Zehntausenden Jahren vom Homo sapiens von Afrika nach Europa mitgebracht wurden, zum Aussterben maßgeblich beigetragen haben könnten. Demnach hatte das Bakterium „Helicobacter pylori“, bis heute die Ursache vieler Magengeschwüre, bereits vor 88 000 bis 116 000 Jahren den modernen Menschen in Afrika infiziert. Es sei dann vor rund 52 000 Jahren mit Homo sapiens nach Europa gelangt, vermuten Charlotte Houldcroft und ihre Kollegen von den Universitäten Cambridge und Oxford Brookes der Universitäten Cambridge und Oxford Brookes.

Außer dem Magenkeim „Helicobacter pylori“ dürften den Neandertalern ihnen auch der Bandwurm, der Tuberkulose-Erreger und das Herpes-Virus zum Verhängnis geworden sein. In Europa dürften die Einwanderer aus Afrika ihre Vettern unter anderem beim Geschlechtsverkehr zwischen den beiden Homo-Arten infiziert haben. Einige Jahrtausende später – vor etwa 30 000 – verschwanden die Neandertaler – aus bisher ungeklärter Ursache.

Künstlerische Darstellung einer Neandertaler-Sippe vor ihrer Höhlenbehausung. Foto: Imago/United Archives International

Starben Neandertaler aus wegen ihrer stressigen Kindheit?

Laura Limmer, Sireen El Zaatari und Katerina Harvati vom Institut für Naturwissenschaftliche Archäologie der Universität Tübingen glauben hingegen, dass die modernen Menschen möglicherweise bessere Strategien hatten als die Neandertaler, um die Belastungen für ihre Kinder während schwieriger Abschnitte der Entwicklung zu verringern.

„Möglicherweise gewannen die modernen Menschen gegenüber den Neandertalern dadurch Vorteile, dass sie ihre Kinder in dieser schwierigen Phase besser unterstützten, etwa dadurch, dass die Kinder länger beschützt und besser mit Nahrung versorgt wurden“, erläutert El Zaatari. Denkbar sei, dass dieses Verhalten ein Baustein gewesen sei bei der Entwicklung, dass die modernen Menschen bis heute überlebten und die Neandertaler ausstarben.

Nachbildung eines Neandertaler-Kindes auf der Grundlage eines 50 000 Jahre alten Schädelfunds. Foto: Imago/United Archives

War isolierte Lebensweise für Neandertaler fatal?

Eine wichtige Rolle beim Aussterben der Neandertaler könnte auch deren gesellschaftliche Organisation in kleinen, isolierten Gruppen gespielt haben. Zu diesem Schluss kommt ein Forschungsteam auf der Basis genetischer Analysen des Erbguts von bestimmten Neandertalern, die vor etwa 40 000 bis 50 000 Jahren lebten.

Ausgangspunkt der aktuellen Studie war ein Neandertalerskelett, das 2015 in der Grotte Mandrin im Rhônetal in Südfrankreich entdeckt worden war. Die Gruppe um Ludovic Slimak von der Universität Paul Sabatier in Toulouse (Frankreich) und Martin Sikora von der Universität Kopenhagen (Dänemark) veröffentlichte ihre Erkenntnisse im Fachjournal „Cell Genomics“.

Erbgut hatte sich in Tausenden von Jahren kaum verändert

Die Überreste des männlichen Neandertalers, den die Forscher „Thorin“ genannt haben, lagen in der Grotte in zwei Schichten, die Altersbestimmungen zufolge 42 000 bis 52 000 Jahre alt sind. Ausgrabungen vom Sommer 2023 deuten darauf hin, dass die Fossilien von „Thorin“ eher in die oberste Schicht gehören.

Den Wissenschaftlern gelang es, aus der Wurzel eines Backenzahns von „Thorin“ genetisches Material zu gewinnen, das dann analysiert werden konnte. Sie verglichen es in statistischen Analysen mit vier anderen Genomen von Neandertalern, die vor nicht mehr als 50 000 Jahren lebten, sowie mit älterem Neandertaler-Erbgut.

Kiefer des Neandertalers „Thorin“. Foto: Xavier Muth/dpa

Aus früheren genetischen Analysen ergab sich, dass sich vor etwa 105 000 Jahren die Abstammungslinien von Neandertalern in Sibirien und anderen östlichen Regionen von denen in Mittel- und Westeuropa trennten. Slimak, Sikora und der Rest des Teams stellten fest, dass sich „Thorins“ Erbgut seit dieser Zeit kaum verändert hat. Auch weist das Genom wenig genetische Vielfalt auf.

Inzucht verringert genetische Vielfalt in einer Population

Bei „Thorin“ sind Varianten eines Gens, die er von Mutter und Vater erhalten hat, sehr häufig gleich. Dies gilt als Hinweis auf Inzucht. „Wir wissen, dass Inzucht die genetische Vielfalt in einer Population verringert, was sich auf längere Sicht nachteilig auf ihre Überlebensfähigkeit auswirken kann“, erläutert Sikora.

Dies seien Hinweise darauf, dass die späten Neandertaler in isolierten Gruppen lebten, die weder mit anderen Neandertalern noch mit den modernen Menschen Partnerschaften eingingen, heißt es in der Studie.

Entdeckung von „Thorin“ in der Grotte Mandrin. Foto: Ludovic Slimak/dpa
Den Wissenschaftlern gelang es, aus der Wurzel eines Backenzahns von „Thorin“ genetisches Material zu gewinnen, das dann analysiert werden konnte. Foto: Ludovic Slimak/dpa

Paarungsnetzwerke bei Homo sapiens

Moderne Menschen waren hingegen stärker vernetzt und tauschten sich aus, selbst wenn sie in kleineren Gruppen lebten. „Wir sehen Beweise dafür, dass frühe moderne Menschen in Sibirien, während sie in kleinen Gemeinschaften lebten, sogenannte Paarungsnetzwerke bildeten, um Inzuchtproblemen zu entgehen, was wir bei Neandertalern nicht gesehen haben“, meint Tharsika Vimala von der Universität Kopenhagen, eine Co-Autorin der Studie.

Der Neandertaler (Homo neanderthalensis) ist eine Menschenart, die in Europa und Asien parallel zum modernen Menschen (Homo sapiens) gelebt hat und vor etwa 40.000 Jahren ausgestorben ist. Genetische Studien ergaben, dass es mehrfach durch gemeinsame Nachkommen zu einem Genaustausch zwischen beiden Menschenarten gekommen sein muss.

In Südfrankreich war dies offenbar nicht der Fall, obwohl in der Grotte Mandrin auch 54 000 Jahre alte Spuren von Homo sapiens nachzuweisen sind. Womöglich hat es sogar mehrere Wechsel der Nutzung der Grotte durch Neandertaler und moderne Menschen gegeben. Aber im Genom von „Thorin“ gibt es keine Hinweise darauf, dass unter seinen Vorfahren auch moderne Menschen waren.