Traditionen gehören zur Natur des Menschen. Ohne sie wäre er ziel- und planlos. Doch immer mehr Riten und Rituale gehen verloren. Der traditionelle Besuch der Christmette ist nur ein Beispiel.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - Weihnachten ist das volkstümlichste aller christlichen Feste, doch seine Traditionen bröckeln wie alter Kitt. Das Christfest versinkt im Treibsand von Kitsch und Klischee, Konsum und Kommerz. Die wachsende religiöse Indifferenz und das Verdunsten des Glaubens in der Gesellschaft tun ein Übriges. So kommt es, dass viele althergebrachte und liebgewonnene weihnachtliche Traditionen aufgeweicht und bagatellisiert, verflacht und vergessen werden.

 

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Was haben Kitt und Weihnachten gemeinsam?

Was verbindet das christliche Hochfest der Geburt des Erlösers mit der plastischen Masse aus der Werkstofftechnik? Auf den ersten Blick gar nichts. Die knetbare Paste aus Leim, Kleister oder Mörtel verbindet Materialien, dichtet ab und isoliert. Wenn Kitt alt und brüchig wird, wird es daheim ziemlich ungemütlich und zugig. Kälte und Nässe schleichen sich durch Ritzen und Spalten.

Sozialer Kitt kann aus unterschiedlichen Zutaten bestehen: ehrenamtliches Engagement und Nächstenliebe, Altruismus und Solidarität – und Wissen. „Information ist der Kitt der Gesellschaft“, sagt der Mathematiker Norbert Wiener, Begründer der Kybernetik. Doch noch wichtiger als alle Infos und News ist ein ganz anderer sozialer Klebstoff: Traditionen.

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Traditionen, Riten, Rituale

Unser ganzes Leben ist von Traditionen, Riten und Ritualen – kulturellem Erbgut und formellen Regeln mit hohem Symbolgehalt durchwoben. Weder Kultur noch Zivilisation sind ohne generationsübergreifend bewährte Glaubensvorstellungen, Handlungsmuster und Überzeugungen denkbar. Traditionen erzeugen überhaupt erst einen geschichtlichen Konnex, ermöglichen Kontinuität und Veränderung. Sie vermitteln Stabilität und Verlässlichkeit über den Moment hinweg, weisen über sich selbst hinaus und vernetzen frühere, heutige und künftige Generationen.

Wandelbare Überlieferungen

Traditionen sind allerdings nicht in Fels gemeißelt. Sie wandeln sich so wie Werte, Institutionen und Handlungsmuster. Ein Beispiel: Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Insa werden die meisten Deutschen Weihnachten nicht in die Kirche gehen.

Vor wenigen Jahrzehnten war die Christmette für die meisten Familien noch so selbstverständlich wie Lametta auf dem Tannenbaum. Und nun das: Selbst Kirchenmitglieder wollen zu Hause bleiben. Gerade mal 36 Prozent der katholischen, 31 Prozent der evangelisch-landeskirchlichen und 43 Prozent der freikirchlichen Gläubigen planen einen Gottesdienst zu besuchen. In der Gesamtbevölkerung sind es schlappe 21 Prozent.

„Früher war mehr Lametta“

„Früher war mehr Lametta“, jammert Opa Hoppenstedt in dem legendären Loriot-Sketch „Weihnachten bei Hoppenstedts“ aus dem Jahr 1997. Den schmalen Glitzerstreifen aus Stanniol, die früher auf keinem Christbaum fehlen durften, ergeht es wie vielen Traditionen: Sie haben ihre beste Zeit hinter sich.

Lametta, das traditionsreiche gold- und silberfarbene Christmas-Accessoire, ist zum Symbol für so viele in Vergessenheit geratende weihnachtliche Bräuche und Sitten geworden. Mit Lametta und der Mette ist es wie mit allen Traditionen: Man muss sie anwenden, tun und leben. Nur dann entfalten sie ihre psychologische und soziale Wirkkraft.

Lebendige Traditionen

Durch Traditionen gewinnt der Mensch Sicherheit und Stabilität. Sie schaffen ein Zusammengehörigkeitsgefühl und stiften Identität, bringen Ordnung in den Alltag, helfen Krisen zu bewältigen, ermöglichen Begegnung und Beziehung. Dafür müssen sie aber immer wieder eingeübt und erprobt, vorgelebt und erneuert werden. Sonst werden sie brüchig wie alter Kitt, der nicht mehr haftet und seine Bindungsfähigkeit verliert.