Warum wir uns selbst überfordern Statussymbol Stress
Viele leiden unter Stress. Doch für immer mehr Menschen ist Stress längst zum Statussymbol geworden. Wer keinen hat, der hat etwas falsch gemacht, gilt womöglich als faul und erfolglos.
Viele leiden unter Stress. Doch für immer mehr Menschen ist Stress längst zum Statussymbol geworden. Wer keinen hat, der hat etwas falsch gemacht, gilt womöglich als faul und erfolglos.
Stuttgart - Wem man auch begegnet, wen man auch fragt, alle geben früher oder später dasselbe Wort zu Protokoll: Stress.
Jede und jeder scheint andauernd gestresst zu sein: die Bekannte, die deswegen keinen Schlaf mehr findet und ihren ohnehin vollen Terminkalender mit Achtsamkeitsseminaren und Yoga-Kursen vollkritzelt; der Freund, der außer seiner Haupterwerbsarbeit noch zwei Jobs nebenbei hat, um das Darlehen für sein Haus zu finanzieren; der eigene Hausarzt, der kopfschüttelnd beklagt, dass er bei seinem Patientenaufkommen eigentlich keine Zeit mehr für eine Mittagspause und eine gesunde Ernährung habe.
Selbst der ehemalige Kollege, der kürzlich in den verdienten Ruhestand verabschiedet worden ist, erklärt seinem verwunderten Gegenüber bei einer flüchtigen Begegnung ohne zu zögern, dass sich eigentlich am Arbeitsaufkommen nichts geändert habe, auch seiner ehrenamtlichen Aufgaben wegen, die ihn forderten und leider nicht ohne Stress einhergehen.
Alle leiden also unter Stress. Wirklich alle? Ja, oder zumindest annähernd alle, lautet die Antwort, wenn man sich nicht nur im eigenen Umfeld umhört, sondern auch die besorgniserregenden Ergebnisse einer aktuellen Umfrage zur Kenntnis nimmt. Knapp 90 Prozent der Deutschen fühlen sich gestresst, das sind nochmals fast zehn Prozent mehr als in der gleichnamigen Untersuchung aus dem Jahr zuvor. Diese Zahlen gehen aus einer repräsentativen Studie des Versicherungsunternehmens Swiss Life hervor. Knapp die Hälfte der 3100 Befragten berichtet gar über Burn-out-Symptome. Im Vergleich der Geschlechter klagten Frauen besonders über Stresssymptome (93 Prozent aller Befragten).
Die Hauptgründe für Stress sind unterschiedlich, aber nicht überraschend: Die an der Studie teilnehmenden Frauen nennen neben Zeitdruck bei der Arbeit und der Arbeitsmenge auch den fehlenden Ausgleich durch Freizeitaktivitäten, bedingt durch die Coronapandemie. Wenn das stimmt, dann ist das höchst gefährlich.
Im Allgemeinen ist Stress ein körperliches Warnsignal, das sinnvoll und natürlich ist. Stress hat die Aufgabe, den Organismus optimal auf Gefahrensituationen einzustellen, Energiereserven freizugeben. Doch nach der Ausnahmesituation sollte der Körper wieder die Möglichkeit bekommen, sich von dem Stress zu erholen. Ständige Alarmbereitschaft führt aber in der Regel zu neurobiologischen Schädigungen. Dauerhafter Stress kann nicht nur beim Einzelnen zu schweren Erkrankungen führen; durch Arbeitsausfälle wegen Burn-out entstehen in der Folge gesamtgesellschaftliche Kosten, die immens sind.
Doch Umfragen können täuschen, denn Menschen neigen dazu, bei der Beurteilung ihrer eigenen Person und Lebenssituation gesellschaftliche Trends und Moden mit einfließen zu lassen. Soziologen und Marktforscher wissen: Jede Selbstbeurteilung ist zugleich auch Selbstdarstellung.
Und die westlichen Gesellschaften verherrlichen ja nicht nur die Arbeit als solche, sondern vor allem auch die Arbeit an sich selbst. Seit Jahren wird in den Medien vor der „Volkskrankheit Burn-out“ gewarnt. Dennoch adeln wir diesen Zustand, übertrumpfen uns gegenseitig mit Horrorerzählungen der Selbstausbeutung und Überarbeitung.
Wer das Problem erkennt und etwas gegen Kopfschmerzen, Bluthochdruck, Überreizung und Schlaflosigkeit unternehmen und seine Resilienz stärken möchte, landet nicht selten in der nächsten Stressfalle, rennt gehetzt von einem Yoga-Kurs zur nächsten Meditationsgruppe, was aber in gewissen Kreisen schon zur Norm und zum gegenseitigen Druckmittel gehört. Wir machen uns fit, um leistungsfähiger zu sein, auch stressresistenter. Und erzeugen neuen Stress, weil jetzt auch noch der Yoga-Kurs und das Wochenende im Wellness-Ressort mit Meditationskursen in den Terminplan eingetragen werden müssen. In Maßen sind Yoga und Achtsamkeitskurse gute Strategien, um entspannter den Widrigkeiten des Alltag zu begegnen. Aber die eigenen Grenzen zu erkennen, ist ebenso wichtig. Mehr ist nicht immer: mehr!
Gibt man den Begriff Resilienz in eine Internetsuchmaschine ein, bekommt man mehr als drei Millionen Treffer angezeigt. In den letzten Jahren stieg Resilienz, also die Fähigkeit, trotz widriger Lebensumstände widerstandsfähig und gesund zu bleiben, zum inflationär gebrauchten Schlagwort auf. Das Angebot an kommerziellen Resilienzschulungen ist unübersichtlich, seriöse Anbieter sind Experten zufolge die Ausnahme.
Resilienz ist ähnlich wie Achtsamkeit zu einem Modewort geworden. Mit dem Halbwissen um die Resilienz schmückt sich der Stressmanager in eigener Sache. „Im neoliberalen Regime findet die Ausbeutung nicht mehr als Entfremdung und Selbst-Entwirklichung, sondern als Freiheit und Selbst-Verwirklichung statt“, so lautet die Analyse des bekannten koreanisch-deutschen Philosophen Byung-Chul Han in einem Beitrag für das „Philosophie Magazin“. „Hier gibt es nicht den anderen als Ausbeuter, der mich zur Arbeit zwingt und ausbeutet“, so Byung-Chul Han. „Vielmehr beute ich mich selbst in dem Glauben aus, dass ich mich verwirkliche. Ich verwirkliche mich zu Tode. Ich optimiere mich zu Tode.“
Wer die meisten Überstunden anhäuft, erntet Respekt. Wer dann auch noch regelmäßig für den nächsten Stadtmarathon trainiert und in den sozialen Medien den Eindruck erweckt, dauerpräsent zu sein, ist schon ziemlich cool. Wer es schließlich auch noch schafft, dreimal wöchentlich an seiner Work-Life-Sleep-Balance zu arbeiten und zu diesem Zweck in der überfüllten, aber sehr angesagten Yoga-Klasse am anderen Ende der Stadt trotz Stau im Feierabendverkehr beim Virabhadrasana alle zu beeindrucken, hat es richtig drauf.
Und wer im Anschluss auf dem Nachhauseweg Sätze in sein Smartphone der neuesten Generation blubbert, die Wörter wie „Bio-Scan“, „Karma“ oder „Stressreduktion durch Achtsamkeit“ beinhalten, gewinnt – nur was eigentlich? Die Antwort: Status, Ansehen, Bewunderung, Anerkennung; eben das, wonach sich so viele im Alltag, aber vor allem auch im Beruf sehnen. Totale Erschöpfung wird verrückterweise immer noch mit Erfolg gleichgesetzt.
Für immer mehr Menschen ist Stress längst zum Statussymbol geworden. Man pflegt einen eigenen Jargon, verbringt sogar den Urlaub im Wellness-Resort mit aktiver Stressreduktion, was wiederum neuen Stress verursacht, weil solche Angebote auch ins Geld gehen.
Wer allerdings keinen Stress vorweisen kann, der hat etwas grundsätzlich falsch gemacht, gilt womöglich als faul und erfolglos. Belege für solche abwertenden Urteile hat Silvia Bellezza von der Columbia Business School in New York erbracht. Gemeinsam mit zwei Kolleginnen hat die Wissenschaftlerin mehrere Experimente durchgeführt und untersucht, wie Menschen zu ihrem Urteil kommen.
In einem Versuch beispielsweise bekamen die Testpersonen einen Text über den fiktiven „Jeff“: Dieser Jeff hat lange Arbeitstage, sein Terminkalender ist proppenvoll, er macht Überstunden. Der zweite Teil der Testpersonen-Gruppe lernte einen völlig anderen Jeff kennen. Diesmal arbeitet er angeblich nicht und hat einen eher entspannungsorientierten Lebensstil.
Der weniger gestresste Jeff könnte theoretisch auch ein reicher Firmenerbe sein, der seine Lebenszeit mit angenehmeren Dingen als mit schnöder Erwerbsarbeit verbringt. Dennoch war das Ergebnis eindeutig. Wer Freizeit hat, hat ein Problem. Der geschäftige und offensichtlich gestresste Jeff schnitt in der Beurteilung, also beim Statusranking deutlich besser ab als der entspannte Jeff.
In einer weiteren Studie, die sich damit beschäftigt, wie der Mangel an Freizeit zum neuen Statussymbol wurde, untersuchte abermals ein Team um Silvia Bellezza von der Columbia Business School Reaktionen auf Facebook-Kommentare, in denen Überarbeitung und das Fehlen von Freizeit beklagt wurden. Man stellte fest, dass die Kommentare sich positiv auf das soziale Kapital und damit den Status der Person auswirkten: Je mehr sich jemand über das angeblich kaum noch zu bewältigende Arbeitspensum beklagte, desto eher stieg das Ansehen dieser Person. Lediglich der gestresste Mensch wird in unserer Gesellschaft als Vollmitglied akzeptiert.
Deswegen ist Stress nicht gleich Stress. Manche machen sich Stress, der nicht nötig wäre. Wozu sollte man sich für das Eigenheim abrackern, das man sich im Grunde nicht leisten kann? Warum vergeudet man seine knappe Zeit mit dem Austesten verschiedenster Meditations-Apps, wenn es auch ein langer Spaziergang täte? Warum nicht im Ruhestand endlich mal einen Gang zurückschalten? Aber einfach mal abhängen und in den Tag hineinleben? Geht doch gar nicht.
Lieber steigt man ins Hamsterrad und fängt mit der endlosen Strampelei an, frei nach dem stressigen Ratgeberbuchmotto: Sieben Schritte zum Erfolg! Zehn Schritte zum Glück! 100 Dinge, die man unbedingt noch erledigen sollte! Wenn das alles Spaß macht, warum nicht? Aber was, wenn all diese Aufforderungen nur Stress verursachen?
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