Itay Tiran geht, aber der gute Kurs bleibt: der Intendant Burkhard Kosminski setzt mit seinem Programm für die nächste Saison die Aufbauarbeit fort und präsentiert ein Füllhorn voller Stücke, Autoren und Regisseure.

Stuttgart - Zunächst die Verlustmeldung: Itay Tiran, der israelische Theaterstar, den Burkhard Kosminski in sein Ensemble gelockt hat, verlässt Stuttgart nach nur einer Spielzeit, um nach Wien zu gehen. Überraschend kommt der Wechsel nicht, er bahnte sich schon bei Tirans letzter Premiere, Shakespeares „Othello“, auf leisen Sohlen an. Auf der Feier danach umwarb Martin Kusej, neuer Herr des reichen Burgtheaters, den Schauspieler aus Tel Aviv mit einem Angebot, das er offensichtlich nicht ausschlagen konnte. Und jetzt: gemischte Gefühle bei Kosminski. „Ich bin traurig, einen so wunderbaren Kollegen zu verlieren“, sagt der Stuttgarter Intendant bei der Programm-Vorstellung, „aber natürlich ehrt es uns auch, dass die Burg auf Spieler aus unserem Haus aufmerksam wird.“

 

Mit der Burg kann das Stuttgarter Schauspiel, was Finanzen, Ausstattung, Tradition und Renommee anlangt, tatsächlich nicht mithalten. Auf einem guten Weg ist das Haus am Eckensee aber trotzdem. Denn was seit Kosminskis Amtsübernahme im Herbst langsam Gestalt angenommen hat, könnte sich in der kommenden Spielzeit weiter ausprägen: eine Stuttgarter Dramaturgie, die unter dem übergreifenden Motto „Als ob es ein Morgen gäbe“ engen Kontakt zu den Fragen der Zeit hält und weder Publikum noch Stadt aus den Augen verliert. Kosminski ist weiter auf Kurs und erobert seine neue Heimat mit einer Freundlichkeit, die seinem ganzen Team zu eigen ist: Das Theater empfängt die Zuschauer wieder mit offenen Armen – und von September an mit einem Füllhorn neuer Stücke, Autoren, Regisseure.

Wohnen, die neue soziale Frage

Insgesamt stehen 18 Neuproduktionen auf dem Plan, darunter sieben Ur- und Erstaufführungen, die von der Zeitgenossenschaft der Bühnenkunst zeugen. Schlagendes Beispiel: die Uraufführungen von Anke Stellings „Schäfchen im Trockenen“ im Januar und Thomas Melles „Die Lage“ im April, jeweils im Kammertheater. In beiden Stücken geht es ums Wohnen, um die neue soziale Frage, die in Berlin die gleiche Brisanz hat wie in Stuttgart – und weil Melles „Lage“ von Tina Lanik inszeniert wird, darf man zumindest hier auf einen erhellenden Abend zum Mieter-Casting hoffen.

Zeitgenossenschaft äußert sich aber auch – man müsste sich schon sehr täuschen – in Stücken aus dem Kanon. Zum Saisonauftakt im September bringt Calixto Bieito die „Italienische Nacht“ von Horváth ins Schauspielhaus, worin sich das politische Elend der Weimarer Republik in bunten, bald zu Bruch gehenden Lichterketten spiegelt: ratlos-saturierte Sozialdemokraten gegen dröhnend-gewalttätige Nationalsozialisten – und der Riss durch die Gesellschaft bestimmt auch die später folgende „finstere Komödie“ von Theresia Walser: „Die Empörten“ heißt sie, uraufgeführt wird sie von Kosminski bei den Salzburger Festspielen, nach Stuttgart kommt die Groteske im Januar. Walser, Melle, Stelling: die Reihe der uraufgeführten Autoren wird unter anderem noch komplettiert vom US-Amerikaner Noah Haidle, der Serien für Hollywood erfindet und dem umtriebigen Stuttgarter Intendanten eine Tragikomödie über das „gute Sterben“ aufs Regiepult legen wird: „Weltwärts“ im Februar im Schauspielhaus.

Die Dämonen von Rechnitz

Sehr schön, stimulierend und wichtig das alles – und doch findet sich auf dem neuen, klug gedachten Spielplan eine Arbeit, die aus dem Angebot noch heraussticht: „Rechnitz (Der Würgeengel)“ von Elfriede Jelinek, handelnd vom Nazi-Massaker an jüdisch-ungarischen Zwangsarbeitern aus einer Partylaune heraus, historisch verbürgt in den letzten Kriegstagen. Jossi Wieler, bis zum vergangenen Jahr unser Opern-Intendant, hat die Tragödie 2008 an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt und wird sie auf Kosminskis Bitte hin im März im Schauspielhaus wieder aufnehmen.

Das Bühnenbild lagert ohnehin seit Jahren in der Stadt, dank der an der Produktion wieder mitwirkenden, in Fellbach geborenen Schauspielerin Katja Bürkle. Weil sie und ihre Kollegen „Rechnitz“ für eine zeitlos relevante Inszenierung hielten, bewahrten sie sämtliche Requisiten vor der Verschrottung. In weiser Voraussicht, wie man sagen muss: „Rechnitz“ könnte mehr denn je das Stück der Stunde werden und trägt auf jeden Fall zur Erinnerungsarbeit bei, der sich das Stuttgarter Schauspiel eben auch verschrieben hat – damit es, um das Spielzeitmotto zu variieren, ein Morgen auch tatsächlich geben wird.