Sozialarbeit im Gefängnisalltag Gewaltbereit, kein Mitgefühl – wie Männer im Knast Gefühle lernen

Minke Burkhardt arbeitet in der Justizvollzugsanstalt Adelsheim mit jugendlichen Straftätern. Foto: Seehaus Leonberg

Eva-Maria Schmutz und Minke Burkhardt trainieren mit gewaltbereiten Jugendlichen Mitgefühl. Sie berichten von vermeintlich starken Jungs, von Gangs als Ersatzfamilien und vom schwierigen Weg aus der Kriminalität.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Die Zahl der von Männern oder männlichen Jugendlichen verübten Gewaltdelikte nimmt stetig zu. Wer in Haft landet, lebt dort weiter in einer Welt, in der Hierarchie über alles geht. Wer Schwäche zeigt, hat verloren. Angebunden an das Seehaus Leonberg, einer Einrichtung für jugendliche Straftäter, bieten die beiden Sozialarbeiterinnen Eva-Maria Schmutz und Minke Burghardt Empathietraining an. Ihre Sternstunden sind die, in denen Opfer von Straftaten berichten und darüber, wie eine Tat ihr Leben verändert hat und Täter verstehen, was sie angerichtet haben. Ein Gespräch über den mühsamen Weg raus aus der Gewaltspirale.

 

Frau Burkhardt, Frau Schmutz, können Sie mit dem Begriff Toxische Männlichkeit etwas anfangen?

Burkhardt Absolut. Wir erleben sie ja täglich im Knast.

Minke Burkhardt Foto: StZN/Lorenz

Wie?

Burkhardt In Dominanzstreben, dass die einen über den anderen stehen, etwas zu sagen haben und keine Gefühle zeigen. Meine Klienten berichten auch manchmal, dass sie von ihrem Vater gelernt haben, nicht weinen zu dürfen. Oder haben lernen müssen, weil sie so lange geschlagen wurden, bis sie nicht mehr geweint haben.

Und es wächst sich nicht aus?

Schmutz Nein, nicht unbedingt. Was man in der Kindheit und Jugend erfahren hat, übernimmt man häufig ins Erwachsenenalter. Das Spannende in der Empathiearbeit ist, dass manche Männer stärker reflektieren können, wenn sie eigene Kinder haben und überlegen, was sie ihren Kindern vorleben wollen. Viele haben erstaunlicherweise den Wunsch, dass ihr Sohn es anders lernt.

Welche Vorstellungen haben ihre Klienten denn von ihrer zukünftigen Frau und ihrer Familie?

Burkhardt Sie wollen eine brave, anständige Frau - manchmal auch verbunden mit der Hoffnung, dass die sie aus dem Sumpf rauszieht. Da können wir dann ansetzen und fragen: Was musst du für ein Mann werden, um eine solche Frau zu finden? In der Haftanstalt in Adelsheim haben wir immer eine Einheit zum Thema Umgang mit Frauen. Junge ehrenamtliche Frauen lesen Briefe vor, wie sie sich ihren zukünftigen Ehemann vorstellen.

Was glauben die Jungs, was attraktiv ist?

Burkhardt Ein schickes Auto, viel Geld, Goldkettchen, Hauptsache Geld. Und dann hören sie von diesen Mädchen, dass es ihnen eigentlich egal ist, was sie verdienen. Dass ihnen viel wichtiger ist, dass sie emotional gefestigt und treu sind. Wir lassen die Jungs ja auch Briefe an ihre Wunschfrau schreiben, darin zeigt sich oft, dass die anders als sie das öffentlich sagen, eigentlich gerne eine Frau hätten, die nichts mit ihrem bisherigen Leben zu tun hat. Einer hat mir mal gesagt: Ich hätte eigentlich gerne eine Frau mit Sommersprossen und Brille, keine von der Straße.

Um mit ihr dann eine Familie zu gründen...

Burkhardt Sie haben völlig normale Ziele: Familie, Wohlstand, Kinder und sie wollen ein guter Papa sein. Aber wenn man mit ihnen darüber spricht, wird ihnen bewusst, dass ihre Lebensweise sie dem nicht näherbringt. Wenn sie nach der Haft weiter auf so großem Fuß leben – Taxi fahren und im Klub Runden ausgeben – werden sie ihr Ziel nicht legal erreichen. Sie haben völlig überzogene Vorstellungen, was man verdient. Das heißt, sie müssen eine Entscheidung zwischen für sie gleichwertigen Lebensmodellen treffen: schnelles, leicht verdientes Geld oder weniger hart verdientes Geld in einem legalen Job.

Kann man den Weg zurück in die Legalität schaffen?

Burkhardt Wir fragen: Was zählt denn mehr? Hast du als Familienvater, wenn du dein Geld illegal verdienst, die Sicherheit, immer für deine Familie da zu sein? Manche geben dann zu, dass sie immer Angst haben, erwischt zu werden.

Eva-Maria Schmutz Foto: StZN/Lorenz

In Haft muss man sich behaupten. Kämpfen Sie da nicht gegen Windmühlen?

Burkhardt Der ganze Knast ist der Inbegriff von toxischer Männlichkeit. Gerade im Jugendvollzug leben zwischen 300 und 400 junge Männer größtenteils mit Gewalterfahrungen, teils aus patriarchalen Strukturen, die das von Anfang an gelernt haben und die sich natürlich auch gegenseitig beeinflussen. Da gibt es eine unausgesprochene Hierarchie, in der jeder seinen Platz kennt. Beim gemeinsamen Film gucken im Gruppenraum setzt sich der Chef natürlich aufs Sofa.

Wie knackt man das?

Burkhardt Durch Beziehungsarbeit, die darauf zielt, im Einzelgespräch auch mal Gefühle, also die weiche Seite zuzulassen. Dort merken sie, hier ist es erlaubt, auch mal schwach zu sein. Mein Gegenüber hält das aus und schätzt mich danach nicht weniger, sondern vielleicht sogar mehr als vorher. Dass es etwas Positives ist, sogar Stärke sein kann, Gefühle zu zeigen.

Schmutz Und indem man anerkennt, dass sie schwierige Dinge erlebt haben, dass es nicht rechtens war, dass ihr Vater sie geschlagen hat. So können sie Empathie mit sich selbst lernen.

Haben denn alle Worte dafür?

Schmutz Am Anfang haben viele nur zwei Worte: gut und scheiße. Wir sagen dann: Das sind keine Gefühle. Und fragen: Wie geht’s dir wirklich? Das fängt damit an, herauszufinden, was Gefühle überhaupt sind und wo man sie körperlich wahrnimmt? Wo nimmst du die Wut wahr? Wo nimmst du vielleicht auch die Trauer wahr? So bekommen sie mehr Zugang zu sich selbst.

Und wenn man das auf Deutsch nicht sagen kann?

Schmutz Für unser Training braucht man schon gewisse Deutschkenntnisse. Als Hausaufgabe müssen die Klienten Perspektivenwechsel trainieren und Briefe etwa an sich selbst schreiben und überlegen, was sie als kleines Kind in dem Moment gebraucht hätte, in dem sie selbst gerade Gewalt erfahren haben. Das zu spüren, ist eine riesige Herausforderung. Sie schreiben aber auch Briefe aus der Perspektive des Opfers an sich selbst als Täter. Welche Folgen hatte die Tat für das Opfer? Es geht um einen Perspektivenwechsel, um so Empathie zu schaffen. Die Voraussetzung dafür ist, dass wir ihnen am Anfang unsererseits viel Empathie entgegenbringen, damit sie sich überhaupt öffnen, weil sie merken, dass sie als Person wahrgenommen werden.

Burkhardt Was hilft, ist, dass wir auch Geschädigte in die Empathietrainings einladen. Es ist etwas anderes, ob wir oder ob Betroffene erzählen. Wobei uns wichtig ist, dass wir Gewalt nicht entschuldigen, wohl aber Erklärungen und damit vielleicht Lösungsansätze suchen, sie künftig zu vermeiden. Ja, es ist ein Gesetzesbruch geschehen, aber vor allem wurden Menschen und Beziehungen verletzt. Wir wollen Stimme des Opfers sein, diese Perspektive in die sehr täterorientierte Arbeit im Vollzug bringen. Und von jemanden zu hören, eine Tat hat sein Urvertrauen in die eigene Sicherheit zerstört, kann wirklich zum Perspektivwechsel führen. Das gilt für Einbruchsdelikte ebenso wie für Gewalttaten.

Wie bewahrt man sich dieses Gefühl und diese Haltung nach der Haftentlassung?

Burkhardt Wir bieten viel Nachsorge an. Die Beziehung zu uns bricht nicht einfach ab, wir sind draußen weiter in Kontakt. Sie können uns eine WhatsApp aufs Diensthandy schreiben: „Hallo, es läuft gerade alles schief. Können wir uns treffen?“

Aber die alten Freunde aus dem Milieu sind auch immer noch da.

Schmutz Man muss sich vergegenwärtigen, wenn ich meine Familie und meine Freunde verlasse, habe ich gar nichts mehr. Ich stehe alleine da. Diesen Schritt zu gehen, dauert verständlicherweise oft lang. Viele schaffen es nicht, sich zu lösen. Häufig fehlt ihnen jemand, der sagt: Wir glauben trotzdem daran, dass du das noch schaffen kannst. Es fehlen positive Vorbilder, die zeigen, dass man Beziehung als Mann auch anders leben kann – eben nicht dominant und aggressiv.

Burkhardt Wenn ich Teil einer Bande bin und mit ihr durch die Straßen ziehe und Schlachtrufe schrei, bin ich jemand. Das habe ich vielleicht in anderen Kontexten nie erlebt.

Schmutz ….hab eine Ersatzfamilie.

Die auch im Knast zusammenhält…

Burkhardt Es ist dann schon spannend zu sehen, wenn mir vier Jungs im Einzelgespräch erzählen, dass sie eigentlich gar keine Lust mehr auf dieses Leben haben und da raus wollen und ich dann mal alle vier zusammenhole und frage: Was machen wir denn jetzt?

Sie werden draußen kaum einen Kegelklub gründen.

Burkhardt Das nicht, aber wir haben die Hoffnung, dass sie sich positiv bestärken und rauskommen. Aber in den meisten Fällen muss jeder einzelne den Absprung schaffen und aus der Gruppierung rausgehen. Aber es ist nicht leicht, den Schritt zu gehen. Man muss ja auch verstehen, dass die Gruppenführer oft draußen sind und die Jungs in Haft oder ihre Mutter draußen versorgen. Das schafft enorme Abhängigkeiten.

Ist das nicht extrem frustrierend für Sie?

Burkhardt Nein. Ich freue mich über die positiven Beispiele. Wir haben Jungs, die es geschafft haben auszusteigen und jetzt eine Ausbildung zum Anti-Gewalt-Trainer machen. Wir als Pädagogen können so viel reden, aber wenn jemand dasteht, der das alles erlebt hat, der aus ihrer Welt kommt, kann er so viel erreichen.

Schmutz Und das bedeutet ja auch, dass es weniger Opfer geben wird. Das ist echte Prävention.

Gewaltprävention

Personen
Minke Burkhardt (29) hat Soziale Arbeit studiert. Sie arbeit seit sieben Jahren in der Justizvollzugsanstalt Adelsheim, in der jugendliche Straftäter untergebracht sind. Eva-Maria Schmutz (27) hat ebenfalls Soziale Arbeit studiert. Sie arbeitet in verschiedenen baden-württembergischen Haftanstalten mit erwachsenen Straftätern. Beide bieten Empathietraining an. Angebot
Das Empathietraining hat zum Ziel, Straftätern einen Zugang zu ihren eigenen Gefühlen als auch Empathie für die Opfer ihrer Tat zu vermitteln. Dafür sind auch Ehrenamtliche im Einsatz, die selbst Opfer einer Straftat wurden und den Inhaftierten ihre Perspektive schildern. Sie werden dabei begleitet. Freiwillige werden dringend gesucht.

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