Demos in Hamburg und Hannover hatten zuletzt bundesweit für Empörung gesorgt - unter anderem wegen Plakaten mit der Aufschrift "Kalifat ist die Lösung" oder der Forderung nach einem solchen. Politiker fordern, die Rufe nach einem Kalifat unter Strafe zu stellen.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens spricht sich dafür aus, Forderungen nach einem Kalifat in Deutschland künftig unter Strafe zu stellen. „Die Forderung nach einem Kalifat als Aufruf zur Beseitigung unserer verfassungsmäßigen Ordnung muss ebenso strafbar werden wie die Aufstachelung zum Hass gegen andere Bevölkerungsgruppen“, sagte die SPD-Politikerin.

 

Strafgesetzbuch erweitern

Eine entsprechende Initiative hatte zuvor schon Hamburg in die Innenministerkonferenz eingebracht. Die Idee sei, die in den Paragrafen 90a und 130 des Strafgesetzbuches geregelte Strafbarkeit der Verunglimpfung des Staates zu erweitern. So könnte künftig auch derjenige bestraft werden, der zur Beseitigung der verfassungsmäßigen Ordnung aufstachele, betonte Hamburgs Innensenator Andy Grote (SPD). Nichts anderes sei die Forderung nach einem Kalifat oder der Scharia.

Am Samstag (15. Juni) waren in Hannover nach Angaben der Polizei 1200 Menschen unter dem Motto „Leiden der Palästinenser. Aktuelle Lage in Gaza (Rafah)“ auf die Straße. Die Versammlung war nach Ermittlungen des Staatsschutzes zunächst untersagt. Die Organisatoren wehrten sich gegen das Verbot vor Gericht und erhielten Recht. Die Kundgebung fand schließlich unter scharfen Auflagen statt, die auch Forderungen nach einem Kalifat untersagten.

Laut Behrens zeige die Demo in Hannover wieder einmal, „dass wir den Feinden unserer Verfassung und unserer Art zu leben an bestimmten Punkten zu tolerant gegenübertreten“. Wer in Deutschland offen das Kalifat fordere und sich antisemitischer Codes bedienet, der sollte dabei nicht auch noch den Schutz des Rechtsstaates genießen, forderte die Politikerin. 

Forderungen nach Islamisten-Demo: Ruf nach Kalifat strafbar machen

Auch nach Ansicht des Unionspolitikers Christoph de Vries sollte künftig bestraft werden können, wer in Deutschland öffentlich zur Errichtung eines Kalifats aufruft. Der Hamburger Bundestagsabgeordnete sagte, es brauche einen parteiübergreifenden Schulterschluss, dass man Demonstrationen wie zuletzt in Hamburg und Hannover nicht dulde und dagegen auch strafrechtlich vorgehen wolle. "Auch wenn dies grundrechtssensibel ist und einen Eingriff in die Meinungsfreiheit bedeutet, müssen wir diese Debatte ernsthaft führen." Der Religionsbeauftragte der Bundesregierung, Frank Schwabe (SPD), verwies mit Blick auf derlei Demonstrationen auf die Grenzen der Religionsfreiheit.

Auch Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Henrik Wüst dringt auf Konsequenzen. "Forderungen nach einem Kalifat in Deutschland, auf die Straße getragener Hass und Hetze sind absolut inakzeptabel", erklärte der CDU-Politiker. "Die Bundesinnenministerin sollte die Organisationen, die hinter solchen Kalifats-Fantasien stecken, endlich verbieten." 

„Kalifat ist die Lösung“

Kalifat-Demonstration auf dem Steindamm am 27. April in Hamburg. Foto: Imago/Blaulicht-News
Redner gaben das Kalifat ausdrücklich als Ziel für islamische Staaten aus. Foto: Imago/Blaulicht-News

Auf Plakaten waren bei Demos Slogans wie „Deutschland = Wertediktatur“ oder „Kalifat ist die Lösung zu lesen“. Redner gaben das Kalifat ausdrücklich als Ziel für islamische Staaten aus.

Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) forderte ein „hartes Einschreiten“ des Staates bei derlei Veranstaltungen. Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb am Montag bei X (vormals Twitter): „Wem ein Kalifat lieber sein sollte als der Staat des Grundgesetzes, dem steht es frei auszuwandern.“

Muslim Interaktiv als gesichert extremistische Bestrebung eingestuft

Der Anmelder der Kundgebungen in Hamburg und Hannover stehen nach Informationen des Hamburger Verfassungsschutzes der Gruppierung Muslim Interaktiv nahe. Diese ist als gesichert extremistische Bestrebung eingestuft.

Sie gilt, ebenso wie die Gruppierungen Generation Islam und Realität Islam, als Ableger der Islamisten-Organisation Hizb u-Tahrir. Auch wenn in den drei Gruppierungen unterschiedliche Akteure aktiv seien, sei die ideologische Ausrichtung ähnlich, hieß es aus Sicherheitskreisen.

Was ist ein Kalifat?

Was ist ein Kalifat? Welche Gruppen fordern es? Und was sind ihre Ziele? Hier einige Erklärungen zu einem hochbrisanten Thema:

Nach dem Tod des Propheten Mohammed im Jahr 632 n. Chr. mussten die Muslime einen Nachfolger für die weltliche und religiöse Führung ihrer Gemeinschaft finden. Die erste Nachfolge (arabisch „Chilafa“) übernahm der Mohammed-Vertraute Abu Bakr bis zum Jahr 634. Mit drei Nachfolgern gehört er zur Gruppe der vier „rechtgeleiteten“ Kalifen.

Während der Kalif zunächst nur als Nachfolger des Propheten galt, setzte die Familie der Umajjaden später die Doktrin durch, wonach er auch Stellvertreter Gottes auf Erden sei. Die Umajjaden errichteten ab 660 in Damaskus die erste Kalifen-Dynastie.

Später wurden sie von den Abbasiden in Bagdad abgelöst. Zum Teil gab es innerhalb der islamischen Welt mehrere Herrschaften. Neben den Abbasiden behaupteten die Umajjaden seit Ende der 920er Jahre ein Kalifat in Andalusien.

1924: Auflösung des letzten Kalifats

Zu den Aufgaben von Kalifen gehörte zum Beispiel die Festigung des islamischen Reiches. Sie waren unter anderem Gesetzgeber, setzten Normen für das religiöse Leben und schufen Verwaltungsstrukturen. Zentrum der islamischen Welt war ab 750 Bagdad unter Herrschaft der Abbasiden.

Die Mongolen eroberten die Stadt im 13. Jahrhundert. Von 1534 an gehörte sie zum Osmanischen Reich. Der Titel des Kalifen hatte in der Folgezeit einen unterschiedlichen Stellenwert. Nach dem Ende des Osmanischen Reiches löste die türkische Regierung unter Präsident Mustafa Kemal Atatürk 1924 das letzte Kalifat auf.

2014: Ausrufung des Kalifats durch den Islamischen Staat

Die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ging aus einem Ableger des Terrornetzwerks El-Kaida im Irak hervor. Sie bezeichnete sich lange als Islamischer Staat im Irak und in Syrien (Isis). Im Juni 2014 riefen die Islamisten in den von ihnen eroberten Gebieten in Syrien und im Irak ein Kalifat aus. Dieser Gottesstaat sollte sich vom Irak bis zum Mittelmeer erstrecken.

Erster Kalif des neuen Gottesstaates wurde Abu Bakr al-Bagdadi. Der 1971 im irakischen Samarra geborenen al Bagdadi war von Mai 2010 bis zu seinem Tod am 27. Oktober 2019 Anführer der dschihadistisch-salafistischen Terrororganisation.

Was sind Islamisten?

Der Begriff Islamismus vereinigt zahlreiche Organisationen, die für den weltweiten Terrorismus im Namen des Islam stehen. Die Attentäter des 11. September 2001 auf das World Trade Center in New York und das Pentagon in Washington gehörten dieser Ideologie an, die für einen extremen religiösen Fanatismus und kompromisslosen Einsatz von Gewalt steht.

Das Bundesinnenministerium definiert den Islamismus so: „Islamismus ist eine extremistische Bestrebung. Sie richtet sich gegen den demokratischen Verfassungsstaat und seine fundamentalen Werte, seine Normen und Regeln. In Abgrenzung zur Religion Islam bezeichnet der Begriff Islamismus eine religiös verbrämte Form des politischen Extremismus.“

Was ist der Salafismus?

Der Salafismus ist so eine radikale Ideologie, welche die geistige Rückbesinnung auf einen aus ihrer Sicht ursprünglichen, unverfälschten Islam propagiert. Ursprünglich wollte diese zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstandene Reformbewegung den Islam modernisieren und durch Rückbesinnung auf traditionelle Werte stärken. Doch inzwischen steht der Salafismus für einen islamistischen Neo-Fundamentalismus, der die gesamte moderne - und vor allem westliche - Welt als Feind betrachtet.

Was ist der Dschihadismus?

So unterschiedlich und untereinander verfeindet Gruppen wie Ansar al-Scharia, Boko Haram, Islamischer Staat, Jemaah Islamiyah, Hamas, El Kaida oder die Hisbollah-Miliz auch sind, sie alle laufen unter dem Oberbegriff Dschihadismus.

Im Dschihad, dem Heiligen Krieg und gewaltsamen Kampf zur Verteidigung des Islam gegen Ungläubige (zu denen auch andere Muslime gezählt werden), sehen sie eine religiöse Verpflichtung eines jeden Gläubigen.

Ideologische Vorläufer dieser extremistischen Strömung sind der im 18. Jahrhundert entstandene Wahhabismus, die Mitte des 20. Jahrhunderts in Ägypten gegründete Muslimbruderschaft sowie die 1941 in Pakistan entstandene Organisation Jamaat-e-Islami.

Was ist die Hizb ut-Tah?

Die pan-islamistische Bewegung Hizb ut-Tahrir wurde im Jahr 1953 von dem palästinensischen Rechtsgelehrten Scheich Taqi ad-Din an-Nabhani, einem ehemaligen Mitglied der ägyptischen und palästinensischen Muslimbruderschaft, gegründet.

Ziele der Hizb ut-Tahrir sind laut nordrhein-westfälischem Innenministerium die Wiedereinführung des 1924 abgeschafften Kalifats und die Errichtung eines islamischen Staats unter Führung eines Kalifen. Grundlage und Maßstab staatlichen Handelns soll die Scharia sein. Säkulare Staatsformen wie Demokratien – auch in Deutschland – stehen hierzu im Widerspruch und werden bekämpft. In Deutschland gilt seit 2003 ein Betätigungsverbot.

„Die Hizb ut-Tahrir ist zwar verboten, aber das Gedankengut dieser Vereinigung lebt weiter“, erklärte NRW-Innenminister Herbert Reul, zum Beispiel durch „Muslim Interaktiv“, „Generation Islam“ und „Realität Islam“. „Die verbreiten offen ihre krude Forderung nach einem Kalifat auf deutschem Boden. Über das Netz erreichen sie viele, vor allem junge Leute. Das halte ich für brandgefährlich.“

Was ist El Kaida?

Die sowjetische Intervention in Afghanistan (1979-1989) bescherte dem Dschihadismus großen Zulauf. Osama bin Laden (1957-2011), ein Anhänger des radikalen palästinensischen Theologen Abdallah Yusuf Azzam (1941-1989), wurde in den 1980er Jahre von seinem Mentor mit dem Aufbau eines internationalen Terrornetzwerks beauftragt. Auf diese Weise hoffte er den Heiligen Krieg zu exportieren. Es war die Geburtsstunde von El Kaida, der ersten multinationalen dschihadistischen Bewegung.

Im Gegensatz zu nationalistischen Bewegungen wie der Hamas oder Hisbollah ist El Kaida ein globales Phänomen. Unabhängig von El Kaida entstanden andere Gruppen in Somalia (al-Shabaab), Pakistan (Laschkar e-Taiba), Russland (Kaukasus-Emirat) und Indonesien (Jemaah Islamiyah). El Kaida (zu Deutsch: die Basis) begann als loser Zusammenschluss ohne konkrete politische Ziele. Im Laufe der 1990er Jahre entwickelte sich das Netzwerk zur gefährlichsten islamistischen Terrororganisation.

Osama bin Laden und seine Anhänger verbündeten sich mit der ägyptischen Terrororganisation al-Dschihad von Aiman az-Zawahiri (1951-2022). Al-Dschihad-Mitglieder hatten am 6. Oktober 1980 den ägyptischen Präsidenten Anwar as-Sadat bei einer Militärparade in Kairo ermordet. Nach Osama bin Ladens Tod wurde az-Zawahiri Führer von El Kaida.

Wer ist die Hisbollah?

Die Schiiten-Organisation Hisbollah (Partei Gottes) entstand 1982 mit iranischer Unterstützung als Antwort auf die israelische Invasion im Libanon. Seitdem kämpft sie politisch, aber auch mit Gewalt gegen Israel. Der Bürgerkrieg, der den Libanon bis heute prägt, dauerte bis Anfang der Neunzigerjahre. Verheerende Anschläge und Entführungen während der Zeit gehen auf das Konto der Hisbollah.

Die Gruppe ist in dem multikonfessionellen Land am Mittelmeer auch im Parlament vertreten. Finanziert wird sie hauptsächlich aus Teheran. Die Hisbollah engagiert sich karitativ, besitzt aber auch einen militärischen Arm, dem nach Schätzungen mehrere tausend Kämpfer angehören. Dieser wird von der Europäischen Union als Terrororganisation eingestuft, in Deutschland gilt seit 2020 ein Betätigungsverbot für die gesamte Hisbollah.

Die Hisbollah gilt als weitaus mächtiger als die Hamas. Ihr Einfluss reicht tief in den von Krisen gelähmten libanesischen Staat. Die Organisation kontrolliert vor allem den Süden an der Grenze zu Israel, von Schiiten bewohnten Viertel der Hauptstadt Beirut sowie die Bekaa-Ebene im Norden des Landes. Unter Generalsekretär Hassan Nasrallah hat sie in der Vergangenheit mit Unterstützung aus Teheran ihren Einfluss stetig ausgebaut.

Wer ist die Hamas?

Die Hamas (Abkürzung für „Islamische Widerstandsbewegung“) wurde im Zuge des Palästinenseraufstands Intifada Ende 1987 gegründet. Ihre Mitglieder hatten schon mehrmals israelische Soldaten entführt und Selbstmordattentäter in israelische Städte geschickt. Ihre Wurzeln hat die Organisation in der ägyptischen Muslimbruderschaft. Gründer war Scheich Ahmed Jassin, der bis zu seiner Tötung durch einen gezielten israelischen Luftangriff im März 2004 auch der geistige Führer der Hamas war.

Im Jahre 2006 hatte die Hamas die Parlamentswahl gewonnen, im Jahr darauf riss sie mit Gewalt die alleinige Kontrolle im Gazastreifen an sich. Seitdem ist sie auch für die Versorgung der Zivilbevölkerung in dem Küstenstreifen zuständig.

In ihrer Charta fordert die Hamas die Zerstörung des Staates Israel und die gewaltsame Errichtung eines islamischen Staates Palästina vom Jordan bis zum Mittelmeer. Das ist das übergreifende Ziel der Gruppierung, die von EU, USA und Israel als Terrororganisation eingestuft wird.

Hamas-Terroristen richteten am 7. Oktober 2023 in Israel ein Massaker unter Zivilisten an. Mehr als 1400 Menschen starben dabei und in den folgenden Tagen. Seitdem geht das israelische Militär im Gazastreifen massiv gegen Ziele der Hamas vor.

Was ist der Islamische Dschihad?

Der Palästinensische Islamische Dschihad (PIJ) gilt als eine der radikalsten militanten Gruppierungen im Nahen Osten. Auf ihr Konto gehen viele Anschläge und Selbstmordattentate in Israel mit zahlreichen Toten und Verletzten. Die Organisation entstand in den 1980er Jahren im Gazastreifen.

Ihre Mitglieder feuern auch immer wieder Raketen aus dem Gazastreifen auf Israel ab. Die Organisation gilt allerdings als weniger schlagkräftig als die im Gazastreifen herrschende Hamas und ihre Raketen gelten als weniger zielgenau als die der größeren Palästinenserorganisation.

Der Islamische Dschihad strebt wie die Hamas die „Befreiung“ des gesamten historischen Palästinas mit Waffengewalt und damit die Vernichtung Israels an. Sie wird auch von EU und USA als Terrororganisation eingestuft. Die Gruppierung ist auch im Westjordanland aktiv.

Was ist die Al-Nusra-Front?

Diese dschihadistisch-salafistische Organisation in Syrien gehört ebenfalls zum El-Kaida-Umfeld, bis sie im Juli 2016 ihre Trennung von dem Terrornetzwerk und ihre Umbenennung zu „Dschabhat Fath asch-Scham“ bekannt gab. Die Al-Nusra-Front schloss sich 2017 mit anderen kleineren islamistischen Gruppen zusammen.

Sie kämpfte im syrischen Bürgerkrieg gegen die Regierung Baschar al-Assads, aber auch gegen Teile der Freien Syrischen Armee (FSA) und kurdische Einheiten. Ihr erklärtes Ziel ist die Beseitigung des Assad-Regimes in Syrien, die Vertreibung der alawitischen und christlichen Minderheit und die Errichtung eines am Salafismus orientierten sunnitischen islamischen Staats in Syrien und eines „Kalifats“ in der Levante – also allen Mittelmeerländern, die östlich von Italien liegen.