Deutschsein heute – was bedeutet das? Ein wiedererwachtes Nationalbewusstsein? Ein neuer Patriotismus? Eine um sich greifende Fremdenfeindlichkeit? Nichts dergleichen! Es ist die Wertschätzung von Demokratie, Liberalität, Offenheit und Verfassungsrechten, meint Markus Brauer.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Stuttgart - Deutschland – die verspätete Nation. Diese Formulierung ist in das politische Unterbewusstsein der Deutschen eingedrungen. Sie stammt von dem Philosophen und Soziologen Helmut Plessner (1892-1985), der sie in der 1934 entstandenen gleichnamigen Studie entfaltete. Plessner geht darin der Entwicklung des deutschen Geistes seit dem 16. Jahrhundert nach und sucht nach den Gründen, warum vor allem das Bürgertum bereit war, einen Diktator wie Adolf Hitler zu unterstützen und ihm bis in den Untergang zu folgen.

 

Wird die Welt am deutschen Wesen noch einmal genesen?

71 Jahre nach diesem Untergang stellt sich die Frage nach dem „deutschen Wesen“ wieder. „Und es mag am deutschen Wesen / Einmal noch die Welt genesen“, schrieb Emanuel Geibel 1861 in seinem Gedicht „Deutschlands Beruf“. Daraus wurde ein politisches Schlagwort, das Konservative und Nationalisten nutzen, um für ihre Machtpolitik zu trommeln.

So beschwor Kaiser Wilhelm II., der von Deutschlands Platz an der Sonne träumte, 1907 dieses Wesen: „Dann wird unser deutsches Volk der Granitblock sein, auf dem unser Herrgott seine Kulturwerke an der Welt aufbauen und vollenden kann. Dann wird auch das Dichterwort sich erfüllen, das da sagt: ‚An deutschem Wesen wird einmal noch die Welt genesen.‘“

Wie halten es die Deutschen mit dem Deutschsein?

Wie halten es die Bürger des wiedervereinigten Deutschland mit dem „Deutschsein“? Eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts gibt darauf Antworten: 61 Prozent der Befragten sagen, Deutschsein sei etwas Positives, für 31 Prozent von diesen ist es sogar sehr positiv. Für 47 Prozent der Erwachsenen ist Deutschland das Land ihrer Träume. Das Land, in dem (um mit der Bibel zu sprechen) Milch und Honig fließen.

Dass Deutschland so verspätet im Konzert der europäischen Mächte mitspielte, hat mit seiner besonderen Historie zu tun. Kriege, politische und territoriale Zersplitterungen, Machtinteressen der Nachbarstaaten, konfessionelle Spannungen – all dies machte das Land im Herzen Europas zum Spielball der Mächtigen.

Die großen Fragen der Zeit

Erst 1871 entstand der Nationalstaat – als ein politisches Konstrukt unter preußischer Führung. „Nicht durch Reden oder Majoritätsbeschlüsse werden die großen Fragen der Zeit entschieden – das ist der große Fehler von 1848 und 1849 gewesen –, sondern durch Eisen und Blut.“ Dieser legendäre Satz des preußischen Ministerpräsidenten Otto von Bismarck vom 30. September 1862 macht deutlich, aus welchem Holz dieser neue Staat geschnitzt war. Das tragische Finale folgte in zwei Schritten, die die Welt erschütterten: 1914-1918 und 1939-1945.

Nach den Erfahrungen zweier Weltenbrände und dem Genozid am jüdischen Volk und anderen monströsen Verbrechen des Nationalsozialismus kam der „große Traditionsbruch“, wie es der Soziologe Hans-Georg Soeffner nennt. Das Land, dass aus den Trümmern dieser Geschichte entstand, war anders. Ein Staat, dessen Fundament eine freiheitlich-demokratische Verfassung und ein Wirtschaftswunder waren.

Friede, Freiheit, Demokratie

Die Identifikation seiner Bürger mit der Bonner Republik – der zweiten in der deutschen Geschichte –, war nicht einem aggressiven Nationalismus, einer menschenverachtenden Rassendoktrin oder dem Griff nach der Weltmacht geschuldet, sondern einem gemeinsamen Wertekanon, dem Respekt vor der Unverletzlichkeit eines jeden, der Hochschätzung von Friede und Freiheit und einem liberalen Lebensstil.

Die Mehrheit der Deutschen, – das zeigt die YouGov-Umfrage – sind stolz darauf, Verfassungspatrioten zu sein, Bürger einer Kulturnation, Mitgestalter der ersten funktionierenden Demokratie auf deutschem Boden. Das habe mit Nationalstolz im klassischen Sinn nichts zu tun, sagt Soeffner zu recht. Und mit Rechtspopulismus, rechtem Radikalismus und Schlimmeren schon gar nichts.

Wenn Zweidrittel der Bundesbürger im Deutschsein etwas Positives oder sehr Positives sehen, dann ist das ein gutes Zeichen für diesen Staat, der am 23. Mail 1949 mit der Verkündigung des Grundgesetztes gegründet wurde. Fünf Jahre und 16 Tage nach der bedingungslosen Kapitulation der deutschen Wehrmacht im Zweiten Weltkrieg.

Die Angst vor dem Fremden

Und heute? Gibt es eine „nationale Selbstwiederentdeckung“? Eine Rückkehr des Nationalismus? Eine Wiederkehr der Schatten der Vergangenheit? Der Höhenflug der Rechtspopulisten in Deutschland ist ein Faktum. Doch die Gründe dafür sind weniger eindeutig. Große Teile der Protestwähler, die sich unter dem Banner der AFD sammeln, würden aus Angst und Unsicherheit wählen, sagt Soziologe Soeffner. „Das hat aber nichts mit Nationalismus zu tun . . ., sondern mit Angstgefühlen und einer Definition der eigenen Position durch den Fremden, den man nicht mag. Man weiß, was man nicht sein will, aber man weiß nicht genau, was man ist.“

„Beethoven, Goethe, Schiller und ein wenig Bismarck“

Das rechte und rechtspopulistische Wählerpotenzial in Deutschland wird auf 20 bis 25 Prozent geschätzt. Was wollen die meisten dieser Protestwähler? Was will die große Mehrheit der Deutschen? Hans-Georg Soeffner gibt darauf folgende Antwort: „Man will auf gar keinen Fall wieder das Dritte Reich. Man will aber auch nicht den klassischen Nationalismus. Man will die Kulturnation – Beethoven, Goethe, Schiller und ein wenig Bismarck.“ Nicht zu vergessen: Neuschwanstein, Oktoberfest und Maßkrug, Bayern, Nordsee und Schwäbische Alb, Fußball-Bundesliga, Tatort und Technik „Made in Germany“.