Was Kinderdemenz bedeutet Sie malen mit allen Sinnen

Die Zwillinge Anna und Marie lieben die Sonne – auf Bildern und live. Foto: Sternentraum

Mit Pinsel und Stiften bewahrt ein blindes und an Kinderdemenz erkranktes Zwillingspaar aus Weil der Stadt seine Welt. Das Bürgerheim der Keplerstadt zeigt einige Werke von Anna und Marie – ein Erlebnis zum Schauen und Staunen.

Mit den Augen fing es. Die Zwillinge Anna und Marie erblindeten mit neun Jahren, bedingt durch die lebensverkürzende Stoffwechselerkrankung Neuronale Ceroid-Lipofuszinose (NCL), besser bekannt als Kinderdemenz. Den Betroffenen fehlt ein Enzym, das quasi den „Abfall“ aus den Nervenzellen abtransportiert, sodass die Zellen nach und nach absterben.

 

„Bis zur Einschulung waren Anna und Marie gesund und unauffällig“, erzählt ihre Mutter Andrea Thulfaut, die selbst Kinderärztin ist. „Wir waren ratlos, als sie in der Schule einfach nicht so gut mitgekommen sind.“ Nach einer mehrjährigen Odyssee und zahlreichen Untersuchungen brachte die Diagnose NCL Klarheit – und das Leben der Familie gehörig ins Wanken.

Auch der Glaube hilft

Denn nach dieser Diagnose mussten die Eltern von inzwischen fünf Kindern ihr Leben ganz neu ausrichten. Die Erkrankung ist nicht heilbar und lebensverkürzend. Schrittweise gehen den inzwischen 19-jährigen jungen Frauen ihre geistigen und körperlichen Fähigkeiten verloren. Hilfe bekommt das Ehepaar von der NCL-Gruppe Deutschland, die Selbsthilfeorganisation vernetzt betroffene Eltern zur gegenseitigen Unterstützung. „Es macht Mut, wenn ich erlebe, wie andere Betroffene nach so einer Diagnose weitermachen“, sagt Andrea Thulfaut. Auch der christliche Glaube und ab und zu ein paar Stunden zu zweit helfen Andrea und ihrem Mann Christian Thulfaut, der auch Vorsitzender bei der NCL Gruppe Deutschland ist, mit der Situation besser umzugehen. Inzwischen sind die Töchter Anna und Marie auf den Rollstuhl angewiesen, und auch ihre sprachlichen Ausdrucksfähigkeiten sind stark eingeschränkt.

Mit dem Fahrdienst in die Werkstatt

In der Nikolauspflege in Stuttgart, in Schulen für Kinder mit und ohne Beeinträchtigung des Sehens sowie Inklusionsklassen und Internat, haben die beiden ihren Schulabschluss gemacht. Inzwischen werden Anna und Marie täglich vom Fahrdienst von Weil der Stadt nach Calw gebracht – in den Förder- und Betreuungsbereich einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung. Hier können sie sich ihren Fähigkeiten entsprechend betätigen.

Eine wichtige Konstante im Leben von Anna und Marie sind seit ihrer Kindheit die monatlich stattfindenden Malstunden in Stuttgart. Zwei ehemalige Nachbarinnen aus Stuttgart-Luginsland, die selbst leidenschaftlich malen, begleiten die Zwillinge künstlerisch und pädagogisch seit gut zehn Jahren. „Auf diese Stunden freuen sich Anna und Marie immer sehr“, sagt ihre Mutter. Da neben der Sprachkompetenz auch die motorischen Fähigkeiten immer weiter abbauen, braucht es gutes Einfühlungsvermögen und einfache Materialien, die spürbar sind, und die beispielsweise durch Gerüche, Erinnerungen bei den Zwillingen wecken. Anna und Marie kennen Farben, denn ihre Erblindung kam schleichend. Die Schwestern wissen, wie die Sonne als gelber Ball am Himmel steht. Daher soll die Sonne auch immer als erstes auf den oberen Rand eines jeden ihrer Bilder.

Klare Vorstellung der Bilder

An den Mal-Tagen geht es in der Küche von Anne Hofmann geschäftig zu. Der Tisch ist übersät mit Guache-Farben, bunten Kreiden, Klebstoff, Schere, Blütenblättern und anderen Materialien, die sich gut ertasten lassen. Dabei wird mit allen Sinnen gemalt. Es gilt, auch den unterschiedlichen Persönlichkeiten der beiden jungen Frauen gerecht zu werden. Denn die Zwillinge wissen meist genau, was auf ihrem Bild am Ende zu sehen sein soll. Eine Auswahl ihrer Werke werden von Mai an im Bürgerheim in Weil der Stadt ausgestellt. Zuletzt waren sie vorigen Herbst in der Stuttgarter Stadtteilbibliothek in Untertürkheim zu sehen, was die beiden aus ihrer Stuttgarter Zeit in guter Erinnerung behalten haben.

Ausstellung bis Juli

Die Vernissage zur Ausstellung „Zwei Stück Himmel“ ist am Freitag, 2. Mai, um 17 Uhr im Seniorenzentrum Bürgerheim, An der Wolldecke 11. Zu sehen sind die bunten Werke bis 19. Juli täglich von 7 bis 19 Uhr.

Information und Hilfe

Über NCL
In Deutschland leiden nach Schätzungen rund 700 Menschen an der Stoffwechselerkrankung, von der es verschieden Formen gibt. Mehr über die Krankheit erfährt man auf Internetseite der NCL-Stiftung, die sich für eine Zukunft ohne Kinderdemenz einsetzt und die Forschung fördert: www.ncl-stiftung.de.

Unterstützung
Wichtig ist der Austausch mit anderen Betroffenen, um Mut und Kraft zu bekommen. Betroffene Familie finden etwa beim Verein NCL-Gruppe Deutschland Unterstützung und Orientierungshilfe.

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