Wege und Irrwege der Religion: Neurologen haben ein Gehirn-Netzwerk entdeckt, das an der Entstehung von radikalen religiösen Ansichten beteiligt sein könnte. Sind diese Hirnareale beschädigt, neigen die Betroffenen eher zu fundamentalistischen Überzeugungen.

Wochenend-Magazin: Markus Brauer (mb)

Im Deutschen Epilepsiemuseum in Kehl-Kork kann man sich über die Geschichte der Anfallkrankheiten und über prominente Betroffene wie den Apostel Paulus (10–65 n. Chr.) ein Bild machen. So wurde im alten Irland Epilepsie auch „Saint Paul’s disease“ (Krankheit des heiligen Paulus) genannt. Liegt Paulus’ berühmtem „Damaskus-Erlebnis“, bei dem ihm laut Bibel der auferstandene Christus erschienen ist (Apostelgeschichte 9, 3–9), ein epileptischer Anfall zugrunde?

 
„Der heilige Paulus auf dem Weg nach Damaskus“: Druck von Gustav Dore (1865/66). Foto: Imago/Heritage Images

Gott, ein Hirngespinst?

Wenn Gott allgegenwärtig ist, wie die christlichen Kirchen predigen, muss er auch im Zentralnervensystem gegenwärtig sein. Offenbart sich der Allmächtige und Ewige also auch im menschlichen Gehirn – als Teil seiner Schöpfung? Oder ist Glauben nur ein Hirngespinst? Sind religiöse Erlebnisse nichts anderes als neuronale Fehlfunktionen und subjektive Täuschungen?

Hört „da oben“ jemand zu, wenn der Mensch betet? Foto: Imago/Pond5 Images

Hört „da oben“ jemand zu?

Die spannende Frage ist: Hört „da oben“ jemand zu, wenn der Mensch religiöse Akte vollzieht, wenn er betet?

Wer betet, glaubt an Gott, sucht nach ihm, ringt um ihn. Er spürt in sich eine mehr oder weniger dezidierte Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Beim Beten stößt der Mensch in eine Dimension jenseits des empirisch Messbaren und faktisch Beweisbaren vor.

Im Glauben und Beten kommt eine innige Beziehung zu einem Gegenüber zum Ausdruck. Dann wieder Ratlosigkeit, Zweifel und Ungläubigkeit, ja Verbitterung. Immer sind Beter auf der Suche nach einer transzendenten Macht, bei der sie Trost und Hilfe zu erfahren hoffen.

Hört „da oben“ jemand zu, wenn der Mensch betet? Foto: Imago/Dreamstime

„Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht“

Dass Gebete etwas bewirken können, daran zweifelte selbst der Atheist Ludwig Feuerbach (1804-1872) nicht. „Nur der Glaube betet; nur das Gebet des Glaubens hat Kraft“, schreibt er.

Wenn Ludwig Feuerbach, Karl Marx, Sigmund Freud, Richard Dawkins und all die anderen Gottesleugner Recht hätten und Gott nichts anderes als eine Projektion, der Glaube nur eine Illusion wäre, dann wären Glaubende allesamt Narren und Toren.

Im neutestamentlichen Brief des Apostels Paulus an die Hebräer (11. Kapitel, Vers 1) liest man folgenden Satz: „Glaube ist: Feststehen in dem, was man erhofft, Überzeugtsein von Dingen, die man nicht sieht.“

Wer hat nun Recht? Feuerbach oder Paulus? Ist das Gebet einsame Zwiesprache mit sich selbst oder lebendiger Dialog mit Gott? Beides – so viel hat der jahrhundertalte Streit zwischen der Theologie und ihren Skeptikern bewiesen – lässt sich nicht einfach empirisch beweisen wie der Aufgang der Sonne oder das Blühen der Blumen.

Seit Jahren versuchen auch Hirnforscher dem Geheimnis des Glaubens auf die Spur zu kommen. Foto: Imago/Depositphotos

Neurowissenschaft und Theologie

Wie alles Erleben hängen auch Glaubenserfahrungen mit komplexen Vorgängen im Gehirn zusammen. Seit Jahren versuchen Neurologen dem Geheimnis des Glaubens auf die Spur zu kommen. Wenn bestimmte Hirnregionen bei Meditation und Gebet besonders aktiv sind, könnte dies ein Hinweis auf eine biologische Basis für die Glaubensfähigkeit des Menschen sein.

Dieses Forschungsgebiet nennt sich „Neurotheologie“. Ihre Vertreter – Philosophen, Neurologen, Psychologen und Radiologen – wollen Gott quasi dingfest machen und religiöse Empfindungen, Erscheinungen und Gefühle neurophysiologisch – das heißt als Vorgänge und Prozesse in den Nervenzellen – nachweisen.

„Der gedachte Gott“

Was geschieht im Gehirn, wenn jemand betet oder meditiert? Neurotheologen versuchen die Spuren religiöser Praxis mit Hilfe der Computertomografie zu messen.

  • Einer der Pioniere dieser Forschungsrichtung ist Andrew Newberg. Der amerikanische Hirnforscher und Religionswissenschaftler hatte die Neurotheologie Ende der 1990er Jahre populär gemacht. „Wenn Gott tatsächlich existiert, so ist das Gewirr der neuronalen Leitungen und physiologischen Strukturen des Gehirns der einzige Ort, an dem er seine Existenz offenbaren kann“, schreibt Newberg in seinem Buch „Der gedachte Gott“ (2003).
Aktivitäten im Gehirn sind ein wahres Feuerwerk an neuronalen Reizen. Foto: Imago/Depositphotos
  • Bei Experimenten mit buddhistischen Mönchen und katholischen Nonnen stellte Newberg eine Abnahme der Aktivität in einem speziellen Hirnbereich fest, der für die räumliche Orientierung zuständig ist. Im Gebet hatten die Probanden das Gefühl, ihr Selbst zu verlieren und quasi in der Ewigkeit zu versinken.
  • Der kanadische Neuropsychologe Michael Persinger hatte mittels eines umgebauten Motorradhelms magnetische Felder erzeugt. 80 Prozent seiner Versuchspersonen berichteten später von spirituellen oder ähnlichen Erlebnissen.
  • Der US-Psychologe Vilayanur Ramachandran spekulierte über ein Gottes-Modul im Gehirn, in dem religiöse Gefühle lokalisiert sein könnten. Ramachandran wies nach, dass Patienten mit Schläfenlappen-Epilepsien auf religiöse Bilder stärker reagieren als auf sexuelle oder gewalttätige Eindrücke. Dies könne auf eine spezielle Hirnregion für Gotteserfahrungen hinweisen – ein „Modul“, an dem die Idee Gott im menschlichen Denkzentrum andocken könnte.
Gehirnforschung kann die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen. Foto: Imago/Dreamstime

„Kein Fehler des Gehirns“

Aus Sicht der Theologie ist Glaube indes weit mehr als nur ein Produkt von Vorgängen in den Nervenzellen. Religion ist nicht nur frommes Gefühl oder meditative Versenkung, die auf Hirnaktivitäten zurückgeführt werden kann. Sie beruht ganz wesentlich auf Vernunft und Ethik, Denken und Handeln.

Was die Neurowissenschaftler entdeckt haben, sind in gewisser Weise Nervenimpulse mit religiöser Sequenz. „Unsere eigene Gehirnforschung kann die Existenz Gottes weder beweisen noch widerlegen“, erklärt Newberg. Er habe den Nachweis erbracht, dass die Beschreibungen religiöser Erlebnisse „kein Ergebnis emotionaler Defekte oder schlicht Wunschdenken“ seien, sondern „biologisch real“.

Religion ist kein Produkt der Biochemie. „Religiöses Empfinden“, schreibt der Stuttgarter Religionswissenschaftler Michael Blume, „kann durchaus auf neuronale Zustände zurückzuführen sein, aber Religion umfasst viel mehr als nur Erfahrungen des Transzendenten“. Gott sei „kein Fehler unseres Gehirns“.

Zeigt sich auch religiöser Fundamentalismus im Gehirn?

Wenn Fakt ist, dass Nervenimpulse mit religiöser Sequenz das Gehirn durchströmen, muss es auch Unterschiede bei der Art und Intensität religiösen Erlebens geben – also beim Suchen nach Wegen wie beim Gebet genauso bei Irrwegen wie religiösem Fundamentalismus.

Fundamentalistische Strömungen finden sich in allen Religionen. Foto: Imago/Pond5 Images

Fundamentalistische Menschen radikalisieren sich in ihrem Glauben, halten starr an ihren religiösen Überzeugungen fest und verteidigen ihre vermeintlich „einzig wahre“ Weltsicht gegenüber „Ungläubigen“ – teils sogar mit Gewalt. Doch warum entwickeln sich manche Gläubigen zu Fundamentalisten und andere nicht?

Unser Sinn für Religion und Spiritualität liegt nachweislich in unserem Gehirn verwurzelt und religiöse Praktiken lösen messbare neuronale Reaktionen aus. Gibt es möglicherweise auch biologische Merkmale im Gehirn von Fundamentalisten?

Wirken sich Hirnläsionen auf die Einstellung aus?

Dieser Frage ist ein Team Michael Ferguson von der Harvard Medical School nachgegangen. Dafür analysierten die Neurologen und Psychiater die Gehirnstruktur von 190 Patienten, die wegen Hirnschäden – sogenannten Läsionen – in Behandlung waren.

Diese Läsionen traten bei den Probanden infolge von Kriegstraumata, Schlaganfällen oder Tumoren auf. „Wir verwenden Läsionsnetzwerk-Mapping, eine Technik, die mithilfe von Konnektivitätsdaten funktionelle Gehirnnetzwerke identifiziert“, berichten die Forscher im aktuellen Fachjournal „Proceedings of the National Academy of Science“.

Läsionen in diesen Hirnregionen könnten Mitauslöser von fundamentalistischen Einstellungen sein, wie Forscher herausgefunden haben. Foto: Imago/Depositphotos

Sind Hirnschäden Ursache für Fundamentalismus?

Diese Methode liefert ein Muster der von den Schäden betroffenen Hirnareale, kann aber durch Vergleiche auch Zusammenhänge mit bestimmten Eigenschaften aufzeigen. Die neuronalen Analysen ergänzten Ferguson und seine Kollegen mit psychologischen Untersuchungen der Patienten hinsichtlich deren religiöser Überzeugungen.

Wir fanden ein Netzwerk von Gehirnregionen, die, wenn sie beschädigt werden, mit stärkerem religiösem Fundamentalismus verbunden sind“, berichten die Neurowissenschaftler.

Zu diesem überwiegend in der rechten Hirnhälfte liegenden neuronalen Netzwerk gehören unter anderem der rechte orbitofrontale Cortex, der dorsolaterale präfrontale Cortex und der untere Parietallappen. Dabei handelt es sich um verschiedene Teile des Stirnlappens und des Scheitellappens, die unter anderem für das logische Denken und Überprüfen von Argumenten wichtig sind.

Ein IS-Mitglied zerstört mit einem Hammer assyrische Reliefs im Irak (Archivbild). Foto: Imago/UIG

Fundamentalismus und Hirngespinste

Läsionen in diesen Hirnregionen könnten demnach Mitauslöser von fundamentalistischen Einstellungen sein, resümieren die Forscher. Ähnliche Gehirnschäden treten auch bei Menschen auf, die sich kriminell verhalten und die erfundene Geschichten und Falschbehauptungen verbreiten. Dabei führen die Hirnschäden zu falschen Erinnerungen, so dass die Betroffenen ihre Lügengeschichten selbst für wahr halten.

Religiöse Kundgebung in der Wall Street in New York (Archivbild). Foto: Imago/Levine-Roberts

„Dieses (mit Fundamentalismus assoziierte) funktionelle Netzwerk überlappt sich mit den Lokalisationen von Hirnläsionen, die mit bestimmten neuropsychiatrischen und Verhaltenszuständen verbunden sind“, schreiben die Experten. Religiöser Fundamentalismus und Hirngespinste könnten demnach dieselbe neurologische Grundlage haben.

Viele Faktoren tragen zu Fundamentalismus bei

Nach Ansicht der Neurologen helfen diese Befunde zu verstehen, warum sich religiöse Fundamentalisten häufig feindselig und aggressiv gegenüber Andersdenkenden verhalten.

Ferguson und seine Kollegen warnen jedoch davor, ihre Ergebnisse zu überinterpretieren. „Viele Faktoren tragen zum Fundamentalismus bei, darunter affektive, kognitive, erfahrungsbezogene, genetische, familiäre, institutionelle, entwicklungsbezogene und kulturelle Variablen“, betont das Forscherteam.

Daher sind weder alle Patienten mit Läsionen in diesem neuronalen Netzwerk automatisch Fundamentalisten, noch weisen alle religiösen Fundamentalisten zwingend solche Gehirnschäden auf. Außerdem werden nicht alle Menschen mit starkem Glauben kriminell oder fantasieren Lügengeschichten, so die Forscher.

Info: Religiöser Fundamentalismus

Fundament
Der Begriff religiöser Fundamentalismus kommt vom Lateinischen „fundamentum“ – Grundlage, Grundanschauung. Gemeint ist eine äußerst konservative, einseitig an der Bibel orientierte und von ihrer buchstäblichen Irrtumslosigkeit überzeugte Frömmigkeit. Heute dient Fundamentalismus auch als Bezeichnung für radikale Strömungen in anderen Religionen und Bewegungen. Der religiöse Fundamentalismus ist ein globales und sich zunehmend verschärfendes Problem.

Antimodern, intolerant, radikal
Der Begriff Fundamentalismus stammt ursprünglich aus einem christlichen Kontext: 1910 bis 1915 veröffentlichten Theologen der evangelikalen Bewegung in den USA die Schriftenreihe „The Fundamentals“ über die Fundamente des christlichen Glaubens. Mittlerweile ist der Begriff zum Synonym für eine radikale Denkhaltung, für Intoleranz, Engstirnigkeit, Antimodernismus und Wissenschaftsfeindlichkeit geworden. Fundamentalisten sind überall dort zu finden, wo soziale Verunsicherung und kultureller Wandel Traditionen und Werte hinwegspülen.

Religion als wichtigster Halt
Religion wird zum wichtigsten Halt in einer als feindlich empfundenen Lebenswelt – in Form eines intoleranten, starren Dogmatismus, der nur die strikte Befolgung von Glaubenssätzen fordert. Jedes Abweichen von der reinen Lehre wird als Sünde und Abkehr vom rechten Pfad gebrandmarkt. Die Absolutierung und Radikalisierung der Religion findet sich im Islam genauso wie im Christentum oder im Hinduismus.

Moderne Bewegung
„Entscheidend für das Verständnis des Fundamentalismus ist, dass es sich um eine moderne Bewegung handelt“, erklärt der evangelische Theologe Peter Zimmerling von der Universität Leipzig. „Am deutlichsten wird seine Modernität daran, dass er traditionelle religiöse Überzeugungen ideologisiert. Dadurch wird die jeweilige vom Fundamentalismus geprägte Religion zur Ideologie mit technisch-wissenschaftlichen Wahrheitsansprüchen.“