Die Alpen galten einmal als der Wasserturm Europas. Heute wehren sich die Gemeinden Tirols gegen den Ausbau der Wasserkraft, weil sie um ihre Trinkwasserreserven fürchten.

Wer sich von Pfunds in Tirol aus auf den Weg zur Platzeralm macht, findet auf 2100 Metern Höhe ein einsames Hochtal vor, das bis heute beinahe unberührt geblieben ist. Entlang des tosenden Platzerbaches schlängelt sich der Pfad ins enge Tal hinauf, an dessen obersten Ende einen die Dreitausender des Glockturmkamms erwarten. Geht es nach den Plänen der Tiroler Landesregierung und der Tiroler Wasserkraft AG (Tiwag) soll diese Schatzkammer der Artenvielfalt ab 2026 einer Großbaustelle weichen.

 

Für die Produktion von erneuerbarem Strom will der Energiekonzern hier eine Staumauer errichten, die so hoch wäre wie der Kölner Dom. Vom vorhandenen Speicher Gepatsch im Kaunertal soll Wasser ins Platzertal gepumpt werden, um dann ein unterirdisches Pumpwasserkraftwerk am Fuße des Gepatsch-Damms zu versorgen. Dieses neue Kraftwerk soll Teil einer der größten Kraftwerksketten Europas werden, die der Tiwag zufolge im Endausbau den Jahresverbrauch von etwa 450 000 Mehrfamilienhäusern decken könnte.

Mit 5 200 Kraftwerken ist die Wasserkraft in Österreich bereits sehr stark ausgebaut. Mehr als 60 Prozent seiner Elektrizität verdankt das Land dieser Technologie. Was jedoch oft übersehen wird: Die Nutzung der Wasserkraft zieht weitreichende ökologische und soziale Probleme nach sich, mit unabsehbaren Folgen. Laut österreichischem Umweltbundesamt sind nur 14 Prozent der Flüsse in einem guten ökologischen Zustand. Hinzu kommt, dass die Speicherkraftwerk Wasserressourcen binden, die in Zeiten verstärkter Trockenheit andernorts fehlen.

Umweltschützer fordern sofortigen Stopp des Ausbauprojektes

Der „Ausbau des Kraftwerks Kaunertal“, der in Wirklichkeit ein neues Großprojekt für zwei Milliarden Euro ist, sieht neben der Flutung des Platzertals die Entwässerung mehrerer Gletscherflüsse und den Bau drei neuer Kraftwerke vor, die starke Eingriffe in das Fließverhalten des Inns bedeuten würden. „Viele intakte Ökosysteme in den Ötztaler Alpen würden irreparabel beschädigt oder zerstört werden, doch intakte Ökosysteme sind zur Bewältigung der Klimakrise unabdingbar,“ warnt Bettina Urbanek, Gewässerschutzexpertin bei World Wide Fund For Nature (WWF).

Dennoch führt die Tiwag das Verfahren mit der Gewissheit, dass es genehmigt wird. Das Projekt ist fest in der Energiestrategie der Landesregierung von Anton Mattle (ÖVP) verankert, der zuvor als Aufsichtsratsvorsitzender der Tiwag tätig war. Auf Anfrage teilte er mit, der Ausbau Kaunertal sei als Teil einer „Energiewende ohne Denkverbote“ zwingend erforderlich. Die Opposition sieht das anders. „Die Argumentation der Tiwag driftet ins Populistische, wenn der Bevölkerung ohne Unterlass gepredigt wird, man brauche das Kraftwerk Kaunertal für die Energieunabhängigkeit,“ sagt die Grünen-Abgeordnete Petra Wohlfahrtstätter. Sie plädiert für die Optimierung der bestehenden kleineren Wasserkraftanlagen, den massiven Ausbau der Sonnenenergie und kleinere Windkraftanlagen, die gut in Skigebiete integriert werden könnten.

Im vergangenen Jahr hat eine Allianz aus 30 Umweltorganisationen von Global 2000 bis zum Alpenverein in einer Erklärung den sofortigen Stopp des Projekts gefordert. Für die Naturschützer ist die geplante Kraftwerkskette Ausdruck einer fehlgeleiteten Energiepolitik, die keinerlei Rücksicht auf Umweltschutz und Ökologie nimmt. „Die Tiwag will 80 Prozent des Wassers aus den Flüssen Ötz, Venter und Gurgler Ache ableiten. Das widerspricht der Alpenkonvention von 1991, in der sich die Alpenstaaten dazu verpflichtet haben, die ökologische Funktionsfähigkeit der Gewässer zu gewährleisten. Alpine Flüsse sind keine Kilowatt-Kanäle und Restwasser-Rinnen,“ sagt Kaspar Schuler, Geschäftsführer von CIPRA International.

Rückendeckung aus der Wissenschaft

Rückendeckung bekommt die Allianz aus der Wissenschaft. Vor allem der geplante Stausee im Platzertal ruft Empörung hervor. Über eine Fläche von 9 Fußballfeldern erstreckt sich hier das größte unbeschädigte Moorgebiet der österreichischen Alpen. „In Österreich sind noch zehn Prozent der Moore erhalten, die es einmal gab. Davon ist ein überwiegender Teil in sehr schlechtem Zustand. Die verbliebenen Hochmoore sind als Schutz vor Überschwemmungen sowie als Trinkwasser- und CO2-Speicher immens wichtig. Das Platzertal muss deshalb dringend geschützt werden,“ sagt Botaniker Harald Zechmeister von der Universität Wien.

Gegenwind bekommt die Tiwag zunehmend auch aus der Bevölkerung. Bei einer Kundgebung in Innsbruck im Juni demonstrierten rund 600 Bürger und Gemeindevertreter gegen das den Ausbau der Wasserkraft in Tirol. „Die Tiwag hat enorme Nutzungsrechte für Wasser aus dem Tschirgant-Gebirge erhalten, wo sich unsere Haupttrinkwasserreserven befinden. Reserven, die wir angesichts zunehmender Trockenheit brauchen werden,“ sagt Michaela Hofner, Bürgermeisterin von Haiming in Tirol. Die Gemeinde hat deshalb eine Klage eingereicht, die derzeit in zweiter Instanz beim Bundesverwaltungsgericht in Wien anhängig ist.

Die Bauern wehren sich

Auch die Bauern sind alarmiert. Das Ötztal zählt zu den niederschlagsärmsten Tälern der Alpen, durch den Gletscherrückgang führen die Quellen schon jetzt weniger Wasser. Einer Studie des WWF zufolge würde die Ausleitung der Ötz die Knappheit weiter verschärfen, da die dafür notwendigen Bauwerke die Neubildung der Grundwasserreserven verringerten. „Wir lassen uns die Lebensgrundlage nicht nehmen,“ zeigt sich Reinhard Scheiber von der Agrargemeinschaft Obergurgl kämpferisch.

Der Tourismus dürfte ebenfalls leiden. Die Ötz ist als einer der letzten großen unverbauten Gletscherbäche bei Paddlern und Rafting-Anbietern sehr beliebt. „Die Ötz künftig als Rinnsal vorzufinden, erscheint unvorstellbar. Das Wasser zählt zu unseren wertvollsten Schätzen,“ sagt Benjamin Kneisl, Obmann des Verbands Ötztal Tourismus.

So sehr das Wasser im Ötztal fehlen würde, so sehr ängstigt es die Bewohner des Kaunertals, wo es durch unterirdische Überleitungsstollen hingelangen soll. Anita Hofmann, Gründerin der Initiative „Lebenswertes Kaunertal“, kämpft seit 15 Jahren gegen die Tiwag. Sie befürchtet, dass der Pumpbetrieb die Hänge um den Speicher Gepatsch ins Rutschen bringen könnte. Dass die Gefahr nicht zu unterschätzen sei, zeige die Katastrophe von Langerone 1963. Damals kostete ein Bergrutsch in den Stausee Vajont 2 000 Menschen das Leben. „Es geht um unsere Heimat. Es sind nicht die Tiwag-Manager, die unter der Staumauer leben,“ sagt Hofmann.

Gewässerökologie

Stromproduktion
2021 wurden in Tirol insgesamt 7 113,2 Gigawattstunden Strom erneuerbar produziert. Der Tiroler Stromverbrauch betrug in diesem Jahr 6.485,9 Gigawattstunden.

Artensterben
Im Platzertal würde das Alpenschneehuhn seinen Lebensraum verlieren. Die Ausleitung der Ötz und die schwankenden Abflussmengen im Inn gefährden die Äsche, die heute vom Aussterben bedrohten ist.