Wasserwerfer-Prozess in Stuttgart Die Richterin lässt den Saal räumen

Am letzten Tag des Wasserwerferprozesses ist es noch einmal turbulent zugegangen. Das Publikum ließ seinen Unmutsäußerungen über die Verfahrenseinstellung freien Lauf.
Stuttgart - Es ist zu erwarten gewesen, was das Gericht verkünden würde, und ebenso, welche Reaktionen das im Publikum hervorrufen würde. Als die Vorsitzende Richterin Manuela Haußmann im Wasserwerfer-Prozess – nach mehreren Unterbrechungen, um über Anträge der Nebenklagevertreter zu entscheiden – den Beschluss bekannt gibt, dass das Verfahren gemäß Paragraf 153 a der Strafprozessordnung vorläufig eingestellt werde, wird es unruhig im Saal. Was dann kommt, ist ein Bild, wie man es in Gerichtssälen selten sieht – die Richterin hat es nach eigenem Bekunden noch nie erlebt. Sie lässt den Saal räumen, als die Unmutsbekundungen nicht aufhören. Wie aus dem Nichts baut sich eine Reihe Polizeibeamter vor dem Zuhörerraum auf, und außer den Pressevertretern werden alle erst aus dem Saal und dann aus dem Gerichtsgebäude gebracht.
Zurück im Saal begründet Manuela Haußmann ausführlich, wie die Kammer zu ihrer Einschätzung gekommen ist, dass bei den beiden angeklagten Polizeibeamten nur eine geringe Schwere der Schuld festzustellen sei. Der Tatvorwurf an die Polizeibeamten, sie hätten sich der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht, bestehe nach wie vor. Es sei aber rechtlich am Wasserwerfereinsatz nichts zu beanstanden gewesen. „Die Voraussetzungen, unmittelbaren Zwang einzusetzen, lagen vor“, argumentiert Manuela Haußmann. Es sei im Laufe der Verhandlung nicht nachweisbar gewesen, dass die 42 und 48 Jahre alten Angeklagten etwas von den zum Teil schweren Kopfverletzungen auf Seiten der Demonstranten mitbekommen hätten. Auch die Zeugen und Nebenkläger sagten, sie hätten außer ihren eigenen Verletzungen nichts von anderen Opfern mitbekommen. Sie hätten auch nicht, wie die Mannschaft der Wasserwerfer, einen freien Überblick über den Raum gehabt, in den die Wasserstrahlen gerichtet wurden. Zwar hätten sie auf einem Hügel leicht erhöht gestanden, jedoch sei ihre Sicht eingeschränkt gewesen durch Fahrzeuge, Menschengruppen und Bäume. Nicht zuletzt hätten sie lediglich die Freigabe der Einsatzleiter für die Wasserwerfer weitergegeben. Angaben zu Strahlstärken, Zielrichtungen und dergleichen hätten die beiden Angeklagten nicht gemacht. Vorzuwerfen sei ihnen das unterlassene Einschreiten, als die Wasserwerfer auf Planen strahlten, unter denen Menschen saßen.
Angeklagten wird unterlassenes Eingreifen vorgeworfen
Man habe daher entschieden, dass es zu einer Verurteilung nicht kommen müsse, da dem Polizeidirektor und dem Polizeioberrat nur die Unterlassung vorzuwerfen sei. Diese sei geringer zu bewerten als der Vorwurf, eine Tat begangen zu haben. Aufgrund dieser Abwägungen sei das Gericht zu seiner Einschätzung und zu dem Vorschlag gekommen, das Verfahren einstellen zu können.
Die Vorsitzende Richterin teilt in ihrer ausführlichen Begründung ordentlich aus. So erhebt sie in Richtung des ehemaligen Polizeipräsidenten Siegfried Stumpf den Vorwurf, er habe die Einsatzabschnittsleiter in der Situation alleingelassen. Als Stumpf im Führungs- und Einsatzstab erfahren habe, dass es nicht klappt, überraschend und schnell eine Absperrung aufzustellen, habe er verkündet, er fahre nun los. „Alle dachten, er würde sich in den Schlossgarten begeben. Dabei fuhr er zu einer Pressekonferenz in den Landtag“, stellt Haußmann fest. Man habe den Beschuldigten, obwohl sie darauf hingewiesen hätten, keinen zusätzlichen Funkkanal zur Verfügung gestellt.
Das Publikum empört sich am letzten Verhandlungstag nicht nur über die Einstellung, sondern auch über die Richterin. Sie sei „extrem dünnhäutig“ und „ungeduldig“ aufgetreten. Die Richterin ihrerseits tadelt das Verhalten der Zuhörer, die trotz mehrerer Warnungen nicht an sich halten konnten und Zwischenrufe einwarfen. „Das haben wir als Kammer noch nie erlebt.“
Nebenkläger kann die Argumentation nachvollziehen
Von unerwarteter Seite bekommt das Gericht jedoch Verständnis für sein Vorgehen. „Die Einstellung kann ich in gewissem Umfang im Rahmen der Anklage nachvollziehen“, sagt Dietrich Wagner, einer der Nebenkläger. Der Rentner hatte durch einen Wasserstrahl sein Augenlicht fast vollständig verloren. Jedoch sei mit dem Prozessende der „,schwarze Donnerstag‘ in keiner Weise aufgearbeitet“, fügt er hinzu. Sein Anwalt Frank-Ulrich Mann nennt die Einstellung „völlig willkürlich“. Er und die drei weiteren Anwälte der Verletzten hatten versucht, die Befangenheit der Richterin doch noch feststellen zu lassen. Das wurde nach einer Phase mit mehreren Unterbrechungen abgelehnt. Die Verteidiger der Polizeibeamten teilen mit, ihre Mandanten hätten aus prozessökonomischen Gründen zugestimmt, das Verfahren einzustellen. Das sei nicht als ein Einräumen der Anklagevorwürfe zu verstehen, erklären sie.
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