1963 hat die Amerikanerin Jean Nidetch die Weight-Watchers erfunden. Mit  87 Jahren wirft sie nun ihre eigenen Regeln über Bord.  

Stuttgart - Viel Fisch, üppige Portionen Obst, Gemüse und Salat, alles Fette und Süße aber nur in kleinen Einheiten - Millionen von Übergewichtigen auf der Welt folgen diesem Beispiel und zählen jeden Tag, wie viele "Punkte" sie noch essen dürfen, denn der Bedarf ist je nach Größe, Alter und Tätigkeit verschieden. Damit der Zeiger an der Waage beim nächsten Gruppentreffen nicht wieder nach oben geht. Damit sie ihrem Traum von einem schlankeren Körper näherkommen.

 

Die Frau, die die Weight-Watchers-Methode mit Treffen mit Gleichgesinnten und Punktezählen erfand, ist gerade 87 Jahre alt geworden. Jean Nidetch lebt in einer Apartmentanlage für Senioren in Parkland, Florida. Immer noch färbt sie ihre Haare blond, trägt sie goldene Kreolen und versucht noch immer, selbst in bequemer Kleidung etwas Glamour auszustrahlen. Doch wie sieht es mit ihrem eigenen Ernährungssystem aus, das ihrer Ansicht nach das ganze Leben lang eingehalten werden muss? Eine Coca-Cola auf ihrem Gehwagen, Schoko-Vanille-Eiskonfekt im Gefrierfach - ist sie ihren eigenen Prinzipien etwa untreu geworden? Das verneint sie energisch: "In meinem Alter hat man längst entschieden, wie man leben will", sagt sie. Das sei nicht mehr rückgängig zu machen. Das meiste ungesunde Essen in ihrem Kühlschrank habe ihr Sohn angeschleppt.

Nidetch wirft ihre eigenen Regeln über Bord

Einige Ausnahmen gönnt sie sich allerdings schon: "Mein Arzt hat mir von künstlichen Süßstoffen abgeraten, deshalb trinke ich gezuckerte Cola", sagt sie. Und die Maxime, dass das Frühstück die wichtigste Mahlzeit sei, hat sie auch über Bord geworfen: "Ich schlafe meistens länger, ich starte dann direkt mit dem Mittagessen." In ihrem Alter könne sie sich das ja leisten.

Es ist fast 50 Jahre her, dass Jean Nidetch mit einer Diät begann. Damals war sie 38 Jahre alt und wog bei einer Größe von 1,70 Metern 97 Kilogramm. Ihr Schockerlebnis hatte sie in einem Supermarkt: Nidetch, die immer sehr auf Frisur und Make-up bedacht war, bedankte sich erfreut, als eine Freundin ihr sagte, sie sähe fantastisch aus. Das Lächeln gefror ihr auf den Lippen, als die Freundin fragte, wann es denn so weit sei. "Da wurde mir klar, dass ich etwas tun musste."

Weight-Watchers bleiben ein Klassiker

Die New Yorkerin ging zu einem Arzt, der sie zu einem Abspeckexperten schickte. Sie nahm zwei Pfund in der ersten Woche ab, aber ihr grauste es vor den Treffen in der Klinik, weil die Vorträge der Ärzte belehrend und wenig ermutigend waren. Sie lud Freundinnen, die ebenfalls mit ihrem Gewicht kämpften, in ihr Wohnzimmer ein. Sie motivierten sich gegenseitig durchzuhalten und beichteten sich ihre nächtlichen Überfälle auf den Kühlschrank. "Das half mir mehr." Nidetch erreichte ein Gewicht von 64 Kilo, das sie nach ihren eigenen Angaben bis heute hält.

Typisch amerikanisch ist die weitere Entwicklung: Zwei Mitdiätler, das Ehepaar Felice und Al Lippert, überzeugten sie, ein Unternehmen aufzubauen. 1963 wurden die Weight-Watchers geboren. Sie schrieben ein Kochbuch, gründeten nach dem Franchisemodell Abspeckgruppen im ganzen Land, für die die Teilnehmer einen Beitrag zahlten, und wurden in Talkshows eingeladen. Die Methode passte ins kalorienüberfütterte Amerika wie der Topf zum Deckel. 1978 entschieden die Lipperts und Jean Nidetch, die Firma für 71 Millionen Dollar an die Firma Heinz zu verkaufen. Bis heute ist das Unternehmen in 23 Ländern vertreten, Tausende versuchen, in Gruppentreffen Unterstützung im Kampf gegen die Pfunde zu bekommen. Kochbücher und Fertigprodukte werden immer noch vertrieben, und trotz vieler Diättrends von der fettreichen Atkins-Kost bis zu den kohlehydratarmen Menüs der Stars bleiben die Weight-Watchers ein Klassiker.

Jean Nidetch braucht keine Gruppentreffen mehr. Sie habe schon lange kein Verlangen mehr "nach dem süßen Zeug, das ich damals in Unmengen gegessen habe". Vor zwei Jahren brachte sie eine Autobiografie heraus, "The Jean Nidetch Story". Und immer noch wispern Menschen, die ihr in der Öffentlichkeit begegnen: "Das ist sie." Das genießt sie immer noch.

Punkte statt Kalorien zählen

Entstehung: Nach einer eigenen Abspeckkur gründet Jean Nidetch 1963 zusammen mit einem befreundeten Paar die Weight-Watchers-Company (auf Deutsch etwa: Gewichtsbeobachter oder Figurbewusste). Zu der Abnehmstrategie gehören das Punktezählen und Gruppentreffen - reale oder virtuelle.

Methode: Das Motto lautet "alles darf gegessen werden" - allerdings nur in bestimmten Mengen. Grundlage ist ein Punktesystem, das einfacher sein soll als Kalorienzählen. Je nach Größe und Gewicht darf eine bestimmte Punktzahl am Tag nicht überschritten werden. Ein Brötchen ohne Belag schlägt mit zwei Punkten zu Buche, ein Croissant mit 8,5, ein Schollenfilet mit einem und ein paniertes Schweineschnitzel mit sieben. Ein Elsässer Flammkuchen mit 18 Punkten. Die Gesamttagespunktzahl variiert je nach Körpergröße, Gewicht, Alter und Geschlecht ab. Obst und Gemüse haben meist gar keine Punkte.

Einschätzung: Die meisten Ärzte halten die Weight-Watchers-Methode für gesund, weil die Gewichtsabnahme mit etwa einem Kilo pro Woche langsam vonstattengeht und keine Wunderrezepte angepriesen werden. Von den oft überteuerten Weight-Watchers-Fertiggerichten raten jedoch viele ab. Weight-Watchers-Sprecherin Andrea Hahn betont, dass die Fertiggerichte allerdings nicht zum notwendigen Bestandteil des Programms gehören. Sie sollten nur eine Alternative darstellen, falls für die Zubereitung einer Mahlzeit die Zeit fehle.