Vielen Menschen ist ein Heiligabend unterm Tannenbaum mit den Lieben verwehrt. Für sie gibt es die Weihnachtsfeier im „Stall“ – und die Weihnachtsandacht im Stuttgarter Hauptbahnhof. Zwei Besuche.

Stuttgart - Die Begegnung mit den Menschen, die einem lieb sind – das ist Weihnachten. Ein Gefühl der Zusammengehörigkeit mit völlig Fremden zu entdecken – auch das ist Weihnachten. Beides zu erleben hat die Evangelische Gesellschaft (Eva) am Heiligabend Menschen auf zwei sehr unterschiedlichen Feiern ermöglicht – bei der traditionellen Weihnachtsfeier im „Stall“ für Bedürftige und bei der Weihnachtsandacht im Hauptbahnhof.

 

„Das Besondere an der Weihnachtsfeier im Stall ist für mich, dass ich Leute wieder treffe und so weiß, dass sie nicht gestorben sind“, sagt Reiner Wolff, der seit 1978 in die Räume der Eva in die Büchsenstraße kommt, um dort Weihnachten zu feiern. Zwar hat die Eva auch übers Jahr viele Angebote für Obdachlose und andere Bedürftige, die Weihnachtsfeier im Haus der Diakonie ist jedoch das Fest, das kaum einer verpassen mag.Hunderte Menschen kommen jedes Jahr an Heiligabend und am ersten Weihnachtsfeiertag aus dem Großraum Stuttgart ins Haus der Diakonie. Für Reiner Wolff ist die Feier ein Moment inne zu halten, in einer Welt, deren Geschwindigkeit stetig zunimmt. Als ein Mann wütend schimpfend an ihm vorbeistürmt, blickt Wolff nicht weg, sondern fragt, warum. Das Interesse an seiner Person lässt den anderen erstaunt innehalten. Die Anteilnahme rührt und freut ihn – es ist ein Geschenk, das er nicht erwartet hat.

Der Empfang ist überwältigend

Platz für Streit gibt es an Weihnachten im Haus der Diakonie kaum. „Das Willkommen, das unsere Ehrenamtlichen bereiten, ist dafür zu überwältigend“, sagt der Sozialdiakon Peter Meyer, der durch die Feier führt. „Es ist schon bemerkenswert, dass sich 150 Ehrenamtliche entschieden haben, auf diese Weise Weihnachten zu feiern“, sagt er. Für Margarete Baur, eine der langjährigen Helferinnen, ist es selbstverständlich, am 24. Dezember im Haus der Diakonie zu sein. „Ich verbringe den Heiligen Abend mit Menschen, mit denen ich das ganze Jahr verbringe“, sagt sie. Für Rosmarie Seisser, die zum ersten Mal zu Weihnachten im Stall ist, um den Gästen Plätzchen und andere Leckereien zu servieren, ist das Erlebnis eine neue Erfahrung. Doch die Möglichkeit, von der eigenen Freude etwas weiterzugeben, gefällt ihr.

Der Einsatz der Helfer kommt gut an. „Gott sei dank gibt es so etwas“, lobt ein Gast. „Es ist eine Möglichkeit, aus der Isolation raus zu kommen. Man sieht, wie Menschen lachen und sich freuen“, sagt ein anderer. „Auch wenn man allein ist, freut man sich aufs Fest. Es tut gut, dass man hier mit anderen Menschen feiern kann“, sagt eine Frau gerührt. Und es wird gefeiert im Haus der Diakonie. Nach den Plätzchen werden Würstchen mit Kartoffelsalat serviert und zur Unterhaltung spielt die Gruppe „Dein Theater“, abends geht es zum Gottesdienst in die Leonhardskirche. „Das ist Weihnachten. Echt, nicht aufgesetzt“, sagt Sozialdiakon Peter Meyer.

Selbst gebackene Zimtsterne als Dankeschön

Ganz ohne Kulisse muss die Weihnachtsandacht an den Gleisen im Hauptbahnhof auskommen. In diesem Jahr konnte nämlich aufgrund der Bauarbeiten wegen Stuttgart 21 in der Bahnhofshalle kein Tannenbaum aufgestellt werden. Sonst wäre während des Weihnachtsmarktes in der Bahnhofshalle ein Fluchtweg versperrt gewesen. Doch der Posaunenchor der Evangelischen Jugend Stuttgart verbreitet auch ohne Kulisse Weihnachtsstimmung. Unbeirrt von Lautsprecherdurchsagen und den umher flatternden Tauben stimmen Bläser und Besucher Lieder wie „Stille Nacht, Heilige Nacht“ und „Es ist ein Ros entsprungen“ an.Die Andacht, mit der früher Kriegsheimkehrer empfangen wurden, lockt am späten Heiligabend zahlreiche Menschen. Einige kommen vom Bahnsteig, andere eigens von zu Hause, um der Musik und der mehrsprachigen Verkündigung der Weihnachtsbotschaft zu lauschen. Pfarrerin Eva Lemaire erinnert daran, dass Gottes Sohn dort auf die Welt kam, wo die Menschen sind – im Stall. „Wenn sich Königskinder ankündigen, ist das heute anders. Aber Jesus hat sich bewusst nicht für eine Märchenwelt entschieden“, so Lemaire. Märchenhaft mag der Bahnhof zu dieser Zeit nur bedingt sein, die Zuhörer haben den Geist der Weihnacht aber verinnerlicht. Ein Mann bringt selbst gebackene Zimtsterne mit – als Dankeschön für den Abend.