Gedanken über den möglichen Sinn der Weihnachtsgeschichte. Sie hilft, sich wegzuträumen, und sie fordert auf, hinzuschauen.

Esslingen - Die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel gehört zu den meisterzähltesten Geschichten in der Welt – übrigens nicht nur in christlichen Kulturkreisen. Eine andere, aber vergleichbare Variante erzählt auch der Koran. Die sonderbare Story von der Jungfrau Maria und dem begnadeten Jesus – Gottes Sohn bei den Christen, ein Prophet bei den Moslems – spielte auch schon manch einen Dollar ein, wenn es um die Vermarktung etwa in der Filmbranche ging. Manchen kommt sie aber auch schon aus den Ohren raus, einfach, weil sie so oft erzählt worden ist – und weil Weihnachten nicht nur positive Erinnerungen weckt. Harmonie und Geschenke prägen das eine Bild, Streit und Langeweile das andere.

 

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Aber einmal angenommen, die Weihnachtsgeschichte wäre nicht so stark vorbelastet durch die ständige Wiederholung oder aufgrund missratener Familienfeiern. Dann hätte sie tatsächlich alles, was eine gute Fantasy-Story braucht: Glück und Elend, viel Dramatik, ein schönes Ende und vor allem sehr viel überbordende Fantasie. Diese Fantasie ist es, die uns in unseren Tagen leider viel zu oft fehlt, etwa, wenn es darum geht, große Krisen zu lösen. Aber auch im Kleinen könnte es manchmal helfen, an das Undenkbare zu denken und mehr zu wagen.

Mehr als eine Erzählung

Unabhängig also davon, ob man an die Jesus-Geschichte glaubt, ob mit oder ohne drei Könige, ob mit oder ohne Jungfrauengeburt, ob mit oder ohne göttlicher Abstammung: Sie fordert uns heraus, über den Tellerrand des täglichen Trotts in die Zukunft zu blicken und Utopien zu entwickeln. Sie fordert uns auf, uns auf eine geistige Reise zu begeben, auf der wir träumend die starren Abläufe der Bürokratengesellschaft hinter uns lassen. Eine Reise, auf der wir uns hinreißen lassen, eine lebenswerte, eine gerechte und eine optimistische Gemeinschaft anzusteuern. Sie fordert uns aber nicht nur heraus, uns weg zu träumen, sondern sie verlangt auch, hinzuschauen auf das Elend dieser Welt, die Vertreibungen, die Gewaltexzesse, die Unterdrückung, um unseren Teil dazu beizutragen, die schlechten Dinge zu ändern.

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Die Weihnachtsgeschichte ist literarisch betrachtet nur eine Erzählung, aber wenn man sie sich noch mal bewusst zu Gemüte führt, hat sie das Zeug zu berühren, zu inspirieren, Analogien zu finden. Sie hat das Zeug, einem einen Fantasieraum zu öffnen, in dem der alltägliche Wahnsinn und seine absurd-kafkaesken Auswüchse verschwimmen. Sie hat das Zeug, seinen Frieden mit der derzeitigen Ausnahmesituation zu machen, ohne sich damit abzufinden.

Lesen hilft!

Übrigens lesen wir nicht nur diese Geschichte. Der Winter, viel Dunkelheit und Düsternis, dazu ein halber Lockdown und ein paar Buchgeschenke – all das bringt viele Menschen in diesen Tagen dazu, mehr zu lesen als sonst. Bösewichte haben keine Lieder, heißt es. In dieser Allgemeinheit würde ich diesen Satz nicht unterschreiben, aber während der Weihnachtstage ist es ja nicht ganz unüblich, die eine oder andere Plattitüde auszupacken. In diesem Sinne würde ich mich mal weit aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass ein Mensch, der liest, keine Untaten verübt. Jedenfalls nicht während der Lektüre. Frohe Weihnachten!