Jeder Senior aus Merklingen und Hausen bekam eine Flasche Wein zu Weihnachten. Damit ist Schluss.

Weil der Stadt - Es hatte einmal ein Fuhrmann seinen Karren, der mit Wein schwer beladen war, festgefahren, sodass er ihn trotz aller Mühe nicht wieder losbringen konnte. Nun kam gerade die Mutter Gottes des Weges daher, und als sie die Not des armen Mannes sah, sprach sie zu ihm: „Ich bin müd und durstig, gib mir ein Glas Wein, und ich will dir deinen Wagen frei machen.“

 

Was die Gebrüder Grimm in ihrem Märchen „Muttergottesgläschen“ so anrührend vermelden, das hatten sich wohl auch vor langer Zeit die altehrwürdigen Herren Gemeinderäte in Merklingen zu Herzen genommen. Eine Flasche Wein soll uns jeder Bürger und jede Bürgerin wert sein, zumindest all jene, die das 75. Lebensjahr überschritten haben.

Seitdem pflegten die Amtsboten der Gemeinde diesen Brauch, packten den Esel voll mit Rotwein und gingen von Ehrenhaus zu Ehrenhaus. Bis jetzt, denn gerade noch rechtzeitig, bevor die große Rotweinsause in Merklingen beginnen konnte, zog der Finanzausschuss des Gemeinderates einen Schlussstrich unter die Tradition. „Die Weihnachtsgabe wird ab 2016 eingestellt“, ließen die Räte ins Protokoll schreiben, ohne Gegenstimme verabschiedeten sie diese Maßnahme.

Gleichberechtigung und Kostenersparnis

„Aus Gründen der Gleichberechtigung und Kostenersparnis“, wie es im Protokoll weiter heißt. Denn, richtig, eingeführt hatten den Brauch ja nur die Merklinger Gemeinderäte, zu jener Zeit, als die kleine Kirchenburg-Gemeinde noch selbstbewusst und selbstständig über sich, ihre 1599 Hektar Gemeindefläche und 470 Hektar Wald regiert hatte (Weil der Stadt hatte nur 1462 Hektar Grund und 297 Hektar Wald, deshalb sind diese Zahlen im Zusammenhang mit Merklingen immer wichtig.)

Als sich dann Hausen mit Merklingen zusammengeschlossen hatte, übertrug sich diese Wein-Regelung auch auf diese kleine Gemeinde mit der großen Brücke. Auf diese beiden Dörfer blieb der Weindurst aber beschränkt, denn als 1972 die große Gemeindereform in Baden-Württemberg wütete und sich die große Stadt Weil der Stadt mit den vier Teilorten formierte, harmonisierte sich zwar das kommunale Schalten und Walten im Großen und Ganzen. Nur eben beim weihnachtlichen Weindurst – da blieb man in Merklingen und Hausen fortan für sich.

670 Flaschen württembergischen Rotweins türmten sich im Amtszimmer von Isolde Reinert allein im vergangenen Jahr. Im Hauptberuf ist sie die Chefsekretärin im Weil der Städter Rathaus, zur Weihnachtszeit aber die frohe Botschafterin ihres Chefs an jeder Merklinger Seniorenhaustür. Eine eigenes Sprüchle hatte sie sich sogar zurecht gelegt. „Ich bringe Ihnen eine Ehrengabe des Bürgermeisters zum Weihnachtsfest.“

„Ja, die Leute haben sich immer gefreut und waren dankbar“, erinnert sich Isolde Reinert. Drei Tage lang war sie in jeder Adventszeit unterwegs, von Haustür zu Haustür, Treppe rauf, Treppe runter. „Vor vier Jahren hab ich hier in Weil der Stadt als Bürgermeistersekretärin angefangen, da wollte ich die Menschen natürlich auch kennenlernen“, erklärt sie. Ohne Zögern hatte sie daher dieses Ehrenamt übernommen und drei Urlaubstage dafür geopfert.

Sogar Erste Hilfe hat sie geleistet

„Ich hatte viel Kontakt zu Leuten, die meist allein sind“, erzählt Isolde Reinert. „Die haben sich natürlich besonders gefreut.“ Einmal war sie sogar ein richtiger weihnachtlicher Schutzengel, ein Senior ist nämlich umgefallen, als Isolde Reinert gerade da war. Da hat sie dann nicht nur den Wein da gelassen, sondern auch gleich Erste Hilfe leisten müssen.

Wie gesagt, etwa 670 Flaschen Rotwein waren es in jedem Jahr, die so die Merklinger Bürger erfreut haben, dazu kamen 70 Hausener Flaschen. „In Zeiten von Haushaltskonsolidierung ist diese Freigiebigkeitsleistung kritisch zu hinterfragen“, überlegte die fürs Geld zuständige Erste Beigeordnete Susanne Widmaier und schrieb dies dem Finanzausschuss. Schließlich schlug die städtische Weinseligkeit mit 4000 Euro in jedem Jahr zu Buche. Noch dazu, wo doch die Schafhausener, Münklinger und Weil der Städter Senioren in die Röhre schauen mussten.

Schon in diesem Jahr war daher Schluss, keine Frau Reinert tourte mehr durch Merklingen. Aber vermisst hat sie offenbar noch niemand, zumindest bislang ist im Rathaus kein fragender Anrufer aufgelaufen. „Und die allermeisten Senioren sind finanziell so gestellt, dass sie sich eine Flasche Wein leisten können“, findet auch Hans Joachim Dvorak vom Stadtseniorenrat. „Es ist ja auch nicht gerecht, wenn die andern Stadtteile zuschauen, wie sich die Merklinger ein Glas einschenken.“