Es ist regnerisch gewesen, aber nicht kalt“, erinnert sich Helga Mühleisen an jenen Tag im Spätfrühling des Jahres 1957 – den Tag, an dem die heute 68-Jährige von zu Hause ausriss. Und an dem sie von einem Jungen in Weil der Stadt eine Armbanduhr bekam.

Ludwigsburg: Marius Venturini (mv)

Weil der Stadt - Es ist regnerisch gewesen, aber nicht kalt“, erinnert sich Helga Mühleisen an jenen Tag im Spätfrühling des Jahres 1957 – den Tag, an dem die heute 68-Jährige von zu Hause ausriss. Und an dem sie von einem Jungen in Weil der Stadt eine Armbanduhr bekam. Eigentlich bloß geliehen, nicht geschenkt. Doch Helga Mühleisen hatte keine Gelegenheit, dem Buben seine Uhr wieder persönlich zurückzugeben. Diese Tatsache bedauert sie bis heute. Aber zunächst der Reihe nach.

 

Gen Schwarzwald wollte das damals 13-jährige Mädchen aus Stuttgart, weg von der Schule, weg von den Eltern. In Französisch hatte sie auf dem Gymnasium wieder einmal eine schlechte Note bekommen. Ihre Mutter und ihr Vater wurden daraufhin vom Lehrer zum Gespräch zitiert. Das war zu viel. Also lief sie los. „Ich wollte zu der Pension, in die wir damals immer in den Urlaub gefahren sind“, sagt Helga Mühleisen, die heute in Nagold lebt. Dort, so malte sie sich aus, hätte man sie aufgenommen, und sie hätte als Zimmermädchen arbeiten können.

Doch dass ihr Plan nicht ohne Tücken war, bemerkte sie spätestens, als sie die Route ihrer Ausreißertour durch einen Wald führte. „Dort bin ich auf einen Exhibitionisten getroffen“, erzählt sie, „der mir aber Gott sei Dank nichts getan hat.“ Sie flüchtete. Nichts wie weg. An einer Straße angekommen, hielt schließlich ein Lastwagen, der sich auf dem Weg in die richtige Richtung befand: nach Westen, in Richtung des ersehnten Schwarzwaldes. „In Weil der Stadt hat er mich dann rausgelassen“, sagt Helga Mühleisen. Geld hatte sie keines dabei, etwas zu Essen ebenso wenig. Sie lief eine Zeit lang umher, bis eine Gruppe von Jungen, allesamt ein wenig älter, auf sie aufmerksam wurde. „Die waren alle sehr nett und sie haben mir etwas zu essen gegeben“, erinnert sie sich. Ihre Geschichte habe sie ihnen erzählt, wie sie ausgerissen sei, und dass sie einen Platz zum Übernachten brauche. Also gingen die Buben mit ihr zu einer kleinen Höhle etwas außerhalb der Stadt. Dort hatte sie wenigstens ein Dach über dem Kopf. „Es war wohl ein ehemaliger Militärbunker“, vermutet Helga Mühleisen – und eklig sei es dort gewesen, nasse Wände, Schnecken, Feuchtigkeit.

Mit den Jungen verabredete sie sich für den nächsten Tag nach der Schule am Weil der Städter Friedhof. Einer von ihnen gab ihr seine Armbanduhr, damit sie auch ja den richtigen Zeitpunkt nicht versäumte. Die Dunkelheit brach herein, und die Nacht brachte die 13-Jährige mehr schlecht als recht hinter sich.

Als der Morgen dämmerte, setzte sie sich auf eine kleine Mauer vor dem Eingang, um sich etwas aufzuwärmen. Schließlich kam sie etwas zu früh am Friedhof an. Dort fiel sie einem Polizisten auf. „Der hat mich angesprochen und dann meine Eltern informiert“, sagt Helga Mühleisen. Ihr Vater kam schließlich, um sie abzuholen. Er war erleichtert, schimpfte nicht mit ihr. Doch da war ja noch die Uhr. Die gab das Mädchen einem der Polizisten auf dem Revier, mit der eindringlichen Bitte, er möge sie seinem Besitzer zurückgeben. „Auf den Schulschluss durfte ich ja leider nicht mehr warten“, bedauert sie.

Wie der Junge hieß, das weiß Helga Mühleisen nicht mehr – in Erinnerung ist ihr aber, dass sie „vielleicht ein bisschen verliebt war“. Wie genau die Uhr aussah, ob mit Leder- oder mit einem Metallarmband, auch das ist ihr entfallen. „Mich quält aber seitdem der Gedanke, dass dieser Junge sie nicht wiederbekommen hat“, gesteht sie.