Das Amt eines Gemeinderates ist hier anders als anderswo. Das hängt mit der chaotischen Vergangenheit zusammen.

Weissach - Montagabend, Gemeinderatssitzung. „Sie hatten so was noch nie auf dem Tisch?“, will der Bürgermeister wissen. Thema ist ein heißes Eisen: Ein Fall von Vorverkaufsrecht. Es geht um die Frage, ob die Gemeinde in einen eigentlich geschlossenen und beurkundeten Kaufvertrag zweier Privatpersonen reingrätschen und das Grundstück übernehmen soll. Das ist juristisch heikel, aber möglich. Auch politisch kann man sich streiten, ob der Staat auf diese Weise Eigentum an sich reißen soll.

 

Da ist es wieder. Das Spannungsfeld zwischen dem „schon“ und „noch nicht“, das den Gemeinderat Weissach charakterisiert, seit mit Daniel Töpfer (CDU) im Sommer 2014 eine neue Ära im Rathaus begonnen hat. Während andernorts die Kommunalpolitiker mit der Gestaltung der Zukunft ihres Orts befasst sind, waren die Weissacher seitdem zusätzlich kräftig mit Vergangenheitsbewältigung beschäftigt.

In Schock habe ihn das Chaos im Rathaus am Anfang versetzt, erzählte Töpfer einmal. Was dann folgte, war ein Aufarbeitungsmarathon, der in einer Kommune seinesgleichen sucht. Nur zwei Beispiele: Im Oktober zum Beispiel hatte der Gemeinderat die Rechnungsabschlüsse aus den Jahren 2002 bis 2014 genehmigt – eine Übung, die Ratsgremien normalerweise jährlich für das jeweils vergangene Jahr leisten. Im März 2018 befasste sich der Gemeinderat mit den Sitzungsprotokollen aus den Jahren 2011 bis 2014. Schon seit 2010 hatten es Töpfers Vorgängerin Ursula Kreutel und ihre Verwaltung offenbar versäumt, die Mitschriften der Gemeinderatssitzung so anzufertigen, wie es das Gesetz vorschreibt.

Zusammenarbeit der Räte mit dem Bürgermeister ist konstruktiv

Diese Vorgeschichte muss kennen, wer den Weissacher Gemeinderat verstehen will. Die Zusammenarbeit der Räte mit dem Bürgermeister ist konstruktiv, bei der Aufarbeitung zieht man an einem Strang, viele Projekte sind angestoßen. Dass im Unterton manch gegenseitiges Unverständnis mitschwingt, will wahrscheinlich niemand leugnen. Haben die Räte, die damals schon dabei waren, von all dem wirklich nichts gemerkt? Schon, aber wir konnten auch nichts ändern, lautet eine der möglichen Antworten. „Wenn man Abläufe und Vorgänge nie kennengelernt hat, dann vermisst man sie nicht“, sagte einer der Gemeinderäte einmal selbstkritisch.

Der Bürgermeister ist Vorsitzender des Gemeinderates, ein Primus inter pares, wobei Daniel Töpfer das Primus stets stärker akzentuiert, als viele seiner Amtsgeschwister – und das gewiss nicht, weil ihn auswärtige Besucher im Rathaus aufgrund seines jugendlichen Alters für den Primaner der Verwaltung halten mögen. „Die Diskussionskultur im Gemeinderat empfinde ich als gut, wünsche mir manchmal aber einen stärkeren Fokus auf das Wesentliche“, gab er in einem Interview vor eineinhalb Jahren zu. Dann unterbricht er auch schon mal den Redefluss der Räte. „Auch hier kommt Weissach aus einer Zeit, als die Sitzungen komplett anders geführt wurden“, sagte Töpfer.

Im Par-Force-Schritt marschiert der Bürgermeister seit viereinhalb Jahren nun mit seinen Rathausmitarbeitern und den Räten in Richtung moderne Gemeinde – sowohl, was die interne Verwaltung, als auch was die Entwicklung des Orts betrifft. Zu einem großen Teil ist die Vergangenheitsbewältigung abgeschlossen, vermeldet er. Wenn nun ab Juni die neu gewählten Lokalpolitiker im Ratssaal Platz nehmen, bekommen sie gleichwohl noch eine Tüte Luft des alten Windes zu spüren. Hinter verschlossenen Türen, nichtöffentlich, läuft derzeit noch der Prozess gegen Ursula Kreutel. Auch das: Dass eine frühere Bürgermeisterin vor Gericht aufgrund ihrer Amtsführung auf Schadensersatz verklagt wird, hat es im Land wohl noch nie gegeben. Je nach Prozessverlauf wird der Gemeinderat entscheiden müssen, wie weit er durch die Instanzen gehen will. Aber trotz allem haben die künftigen Gremienmitglieder mehr Zeit für Zukunftsgestaltung. Wer allerdings meint, Weissach hätte vor lauter Geschichtsanalyse die Gegenwart vergessen, liegt falsch. Vieles ist auf den Weg gebracht. Die Wasserversorgung ist rundumerneuert, die Wasserhärte im Ort ist von achtzehn auf acht Grad deutsche Härte gesunken, die lange diskutierte Ortsdurchfahrt in Flacht wird Ende des Monats fertig, das Bürgerbüro hat ein neues Konzept, auch die gemeindeeigene „Kommbau“ hat mit „Wohnbau Weissach“ nicht nur einen neuen Namen, sondern mit dem geförderten Mietwohnungsbau auch ein neues Aufgabenfeld.

In beiden Ortsteilen tut sich viel

Und wer derzeit durch die beiden Ortsteile läuft, bekommt zu sehen, dass sich was tut. In Flacht hat die Gemeinde einen Teil der Ortsmitte in einem Architektenwettbewerb einem privaten Investor überlassen, der dort Reihenhäuser errichtet. In Weissach ist derzeit in der halben Ortsmitte, zwischen Metzgerei Böhmler, Rewe-Markt und dem Alten Rathaus, die Abrissbirne unterwegs.

Das wird die erste Frage an den neuen Gemeinderat sein: Was soll auf diesem prominenten Filetstück entstehen? Der Grund gehört der Gemeinde, der Rat ist also Herr des kompletten gestalterischen Verfahrens. In Flacht wird es ähnlich sein. Beschlossen ist der Umzug des Bauhofs in das neue Gewerbegebiet Neuenbühl III zwar noch nicht, er bietet sich aber an. Auch hier dürfen die Kommunalpolitiker dann ihrer Fantasie Lauf lassen und überlegen, was sie mit Flachts freier Mitte anstellen wollen.

Das sind die schönen Aufgaben. Es bleibt gleichwohl noch Schwarzbrot. Der Haushalt ist nicht ausgeglichen, auch wenn das mit 90 Millionen Euro auf dem Sparbuch nicht auffällt. Weissach ist zudem finanziell stark von Porsche und dessen Wohlergehen abhängig. Und dann wäre da noch der viele, viele Verkehr, der sich morgens und abends durch den Ort quält. Auch hierfür ist Fantasie gefragt.