Polizei, Psychologen und wichtige Kirchenvertreter sorgen sich um eine Vergiftung der politischen Debatte auf der britischen Insel.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Im Palast von Westminster, dem Sitz des britischen Parlaments, nahm diese Woche die Labour-Abgeordnete Jess Phillips einen Anruf aus Birmingham entgegen. Ihre Mitarbeiter im Wahlkreis-Büro in den West Midlands hatten sich verbarrikadiert. Sie berichteten, dass ein Mann draußen die Fenster einzuschlagen versuchte und „Faschistin“ brüllte. Die Polizei musste anrücken, den Angreifer festzunehmen und die Eingeschlossenen zu befreien.

 

Überraschend kam der Vorfall für Phillips nicht. Anonyme Drohungen erhält sie schon lange. Wie sie fürchten vor allem weibliche Oppositionsabgeordnete in Westminster zunehmend um ihre Sicherheit. Den Parlamentarierinnen werden Überfälle, Vergewaltigungen und Exekutionen angedroht, so sie keinen Austritt aus der EU wollen. Der Polizei zufolge ist allein in der ersten Jahreshälfte die Zahl der als kriminell klassifizierten Gewaltdrohungen gegen Volksvertreter im Vergleich zum Vorjahr um 90 Prozent gestiegen. Überall werden zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen getroffen, Türschlösser verstärkt, Kameras installiert, Alarmanlagen eingerichtet.

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Mehrere Täter sind dieses Jahr bereits zu Gefängnisstrafen verurteilt worden. Einer hatte einer Reihe von Abgeordneten Sprachnachrichten zugeschickt, in denen er ihnen mitteilte, er wisse, wo sie wohnten und werde ihnen die Kehle aufschlitzen, wenn sie „beim Brexit Ärger machen“. Drohungen dieser Art gehen den Betreffenden täglich zu.

Diese Woche freilich, in der Premierminister Boris Johnson im Unterhaus bemerkenswerte verbale Breitseiten gegen seine Kritiker abfeuerte, wegen angeblicher „Kapitulation“ vor der EU, „Sabotage“ und „Verrat“ beim Brexit, schnellten die Meldungen über Nacht in die Höhe. Nicht nur die Opposition empörte sich über die krassen Töne. Unterhaus-Speaker John Bercow beschwor die Hohe Kammer, der „Vergiftung“ der Atmosphäre im Parlament zu wehren. Die Bischöfe der Kirche von England ängstigten sich, dass das Königreich in „Spaltung und Schmähungen“ abzugleiten drohe: Das sei nicht die Art politischer Führung, derer Großbritannien bedürfe.

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Auch bei Polizisten und Psychologen hat der neue Ton Besorgnis hervorgerufen. Ein Experte auf diesem Gebiet, Manchesters Ex-Polizeichef Sir Peter Fahy, warnte davor, dass solche Aggressivität das Risiko erhöhe, dass es zu „extremen Aktionen“ und mehr „gewalttätigem Verhalten“ komme.

Genauso sieht es Jess Phillips. Die Labour-Abgeordnete hatte just am Tag der Attacke auf ihr Wahlkreis-Büro im Unterhaus eine Debatte zu politischer Sprache in Gang gebracht. Für Johnson selbst ist es freilich „reiner Mumpitz“, zwischen seiner Wortwahl und diesen gefährlichen Entwicklungen eine Verbindung herzustellen.

Schon gar nicht will der Regierungschef daran erinnert werden, dass 2016 die Labour-Abgeordnete und Brexit-Gegnerin Jo Cox vor ihrem Wahlkreis-Büro in Yorkshire von einem Rechtsextremisten ermordet wurde, der „Britain First!“ schrie, als er sie tötete.

Am „Kapitulations“-Vorwurf, machte Johnson klar, werde er jedenfalls festhalten. Das Wort soll im kommenden Tory-Wahlkampf eine wichtige Kampfparole werden. Gefragt, ob man in Downing Street die Ängste der Abgeordneten nicht begreifen könne, brummte Johnsons Chef-Berater Dominic Cummings nur: „Dann sollen sie eben für Brexit stimmen.“

Die Londoner „Times“ zitierte einen Minister mit der Warnung, falls der Brexit nicht zustande komme, müsse man mit „einem Volksaufstand“ rechnen.