Durch die Aussagen des „Whistleblowers“ Angelo Agrizzi tun sich immer tiefere Korruptionsabgründe in Südafrika auf. Dabei war schon vorher klar, dass das Land ein Problem mit Schmiergeldern und verkaufter Macht hat.
Johannesburg - Acht Tage sitzt er nun schon hier – drei Stunden am Morgen, zwei Stunden am Mittag, dazwischen eine Stunde Pause. Seinen kolossalen Körper bewegungslos auf dem Stuhl abgelagert, schwenkt er lediglich seinen übergangslos aus den schrankbreiten Schultern ragenden Kopf mal etwas nach links, dann etwas nach rechts – je nachdem, ob seine kleinen Augen den Richter oder den Beweisführer fixieren sollen. Wird dem Zeugen das Wort erteilt, redet er in tiefem Bass und mit weit heruntergezogenen Mundwinkeln: Zwischen seinen Worten meint man ein Nilpferd atmen zu hören. Sieht so Südafrikas Retter aus?
Angelo Agrizzi hat das Land an der Südspitze Afrikas in Bann gezogen: Seine Marathonaussage vor der sogenannten Zondo-Kommission in Johannesburg wird in die Geschichtsbücher eingehen. Die nach dem leitenden Richter Raymond Zondo benannte Kommission soll die „Geiselnahme des Staates“ untersuchen. Damit waren die Korruptionsfälle um den Ex-Präsidenten und Chef der Partei Afrikanischer Nationalkongress (ANC), Jacob Zuma, und der steinreichen Gupta-Familie gemeint. Die Guptas übten über Zuma offenbar regen Einfluss auf die Politik aus. „Whistleblower“ Agrizzi hat das Bild erweitert.
Korruption geht noch tiefer als befürchtet
Die Korruption im ANC, der Partei des Freiheitskämpfers Nelson Mandela, geht noch tiefer als befürchtet: In den 25 Jahren ihrer Herrschaft hat sie den südafrikanischen Staat an den Rand des Ruins getrieben. Die Sicherheitsfirma Bosasa – Agrizzi war einer ihrer Geschäftsführer – wusste sich innerhalb von 15 Jahren Staatsaufträge im Wert von 12 Milliarden Rand, rund 800 Millionen Euro, zu sichern: Im Gegenzug sollen Schmiergelder in mehrstelliger Millionenhöhe geflossen sein.
Dutzende von ANC-Funktionären wurden mit monatlichen Zahlungen in einer Gesamthöhe von bis zu 390 000 Euro versorgt, gab Agrizzi zu Protokoll – darunter Präsident Zuma, dem Monat für Monat gut 13 000 Euro zugesteckt worden sein sollen. Andere bekamen individuelle Geschenkpakete: Nomvula Mokonyane, die noch heute Umweltministerin ist, bekam nach den Worten Agrizzis zu Weihnachten Kisten von teurem Whisky, acht Lämmer und ein Audi-Cabriolet für ihre Tochter geschenkt.
Wie sich eine Firma Geld und Einfluss sicherte
Wenn Agrizzi Szenen aus der Firma Bosasa schildert, erinnert das an den Geldbunker von Comicfigur Dagobert Duck. Um die Schmiergelder – gewaschenes Bargeld – auszahlen zu können, ließ sich Chef Gavin Watson einen dreiteiligen Tresorraum neben seinem Büro installieren. Am Abzählen der von ihm „‚Monopoly‘ Money“ genannten Bargeldbündel beteiligte sich der Firmenboss persönlich, wie ein heimlich mit dem Handy aufgenommenes und der Kommission vorgeführtes Video zeigte.
Im Mittelpunkt der Streifzüge der Sicherheitsfirma stand das staatliche Gefängniswesen, von dem Bosasa Aufträge im Wert von etwa 470 Millionen Euro pro Jahr eroberte. Die Firma kaperte unter anderem einen nie offiziell ausgeschriebenen Auftrag für einen Gefängniszaun in Höhe von 35 Millionen Euro. Dazu schaffte es Bososa, dass die Ernährung der südafrikanischen Häftlinge an sie vergeben wurde, und rechnete dann den doppelten Tagessatz ab.
Als die Betrügereien aufzufliegen drohten, fing die Firma auch mit der Bestechung der Staatsanwaltschaft an: Unter anderem habe die stellvertretende Chefanklägerin monatlich in bar fast 9000 Euro bekommen, sagte Agrizzi. Und eine enge Vertraute Zumas soll Bosasa über die Ermittlungen der Staatsanwaltschaft informiert haben.
Das Unternehmen Bososa, das mittlerweile in Africal Global Operations umbenannt wurde, breitete seine Schmiergeldzahlungen bald über weite Teile der Geschäftswelt aus. In den Genuss der Geldbündel sollen Manager der Flughafenbetreibergesellschaft Acsa, der Post, der Steuerbehörde und selbst Gewerkschaftsführer gekommen sein. Bestechung sei in der Firma „zu einem Kult“ geworden, berichtete Agrizzi: „Man kommt sich wichtig vor und stumpft ab.“
Jeden Tag neue Horrorbotschaften
Agrizzis überraschende Marathonaussage markiert den vorläufigen Höhepunkt der seit August tagenden Zondo-Kommission. Schon im vergangenen Jahr veranlasste die Kommission den Rücktritt eines Finanzministers, der während seiner Aussage der Lüge überführt wurde: Nhlanhla Nene musste gestehen, dass auch er einst die mit Zuma befreundeten drei Gupta-Brüder in ihrer Privatvilla aufgesucht hatte. Immer mehr wird bekannt, welche Ausmaße die Korruption im Zuma-Regime annahm. Außer der Zondo-Kommission tagen derzeit noch drei weitere Untersuchungsgremien: Sie gehen den Machenschaften in der Steuerbehörde, der Staatsanwaltschaft und der staatlichen Pensionskasse, dem größten Investmentfonds Afrikas, nach. Zudem werden den Südafrikanern Tag für Tag neue Horrorbotschaften über den elenden Zustand der Staatsunternehmen zugemutet: Am Stromkonzern Eskom, der Fluggesellschaft SAA oder dem Transportkonzern Transnet bedienten sich Zuma und Co. wie an Geldautomaten.
Dass sich bislang trotzdem kein einziger Verdächtiger vor Gericht verantworten muss, ist in erster Linie der selbst zur Geisel genommenen Staatsanwaltschaft zuzuschreiben. Nach langem rechtlichen Gerangel setzte der seit einem Jahr regierende Präsident Cyril Ramaphosa im August 2018 den bisherigen Generalstaatsanwalt Shaun Abrahams ab. Dessen Nachfolgerin Shamila Batohi trat erst Anfang Februar ihren Dienst an. Sie kündigte an, dem „Krebsgeschwür der Straflosigkeit“ unverzüglich zu Leibe zu rücken, wobei ihr Ramaphosa zur Seite stehen will. In seiner Regierungserklärung kündigte der Präsident die Wiedereinsetzung einer Ermittlertruppe der Staatsanwaltschaft an. Genau diese Einheit hatte Jacob Zuma einst zerschlagen, um die gegen ihn eingeleiteten Untersuchungen zu stoppen.
Dass die Beschuldigten versuchen würden, an Agrizzis Glaubwürdigkeit zu kratzen, wurde in der Zondo-Kommission bereits deutlich. Dort sah sich der Beweisführer gezwungen, einen Tonbandmitschnitt abzuspielen, den die Familie von Bososa-Chef Watson bei einer Begegnung mit Agrizzi einst heimlich aufgezeichnet hatte, und der seinen Weg in die Öffentlichkeit fand. Darin ist Agrizzi mit wüsten Beschimpfungen seiner dunkelhäutigen Bosasa-Kollegen zu hören, die er etwa als „Kaffer“ bezeichnet – das schlimmste aller Schimpfworte für Südafrikas Schwarze. Bei Agrizzis Aussagen handele es sich um „Hirngespinste eines weißen Rassisten“, schlachteten Zumas Anhänger den Vorfall aus. Richter Zondo wollte von beidem nichts wissen: Er schalt die Äußerungen Agrizzis als „widerlich“ – seine Aussagen seien allerdings trotzdem ernst zu nehmen. Agrizzi bedankte sich zum Abschluss seines Aussagesarathons für die faire Behandlung durch den Vorsitzenden Richter: „Ich bin das eigentlich nicht wert.“
Zeuge landet selbst vor Gericht
Der Zeuge Agrizzi muss sich nun aber selbst vor dem Richter verantworten. Wenige Tage nach seinem Auftritt vor der Zondo-Kommission wurde er und ein weiterer „Whistleblower“ aus dem Bosasa-Management überraschend festgenommen. Neben zwei Beamten der Gefängnisbehörde sollen sie sich nun als erste Korruptionsverdächtige vor dem Richter verantworten. Dagegen haben Firmenchef Watson, dessen Freund Zuma sowie die inkriminierten Staatsanwälte zumindest vorerst nichts zu befürchten: Die Ermittlungen in ihrer Sache, heißt es, nähmen sehr viel mehr Zeit in Anspruch.