Seit dem Jahr 1952 wird am Sonntag, zwei Wochen vor dem ersten Advent, den Opfern von Gewalt und Kriegen gedacht. In einem Gastbeitrag teilt der Ditzinger Ulrich Warnke seine Überlegungen, wie sich die Bedeutung des Gedenktags im Laufe der Zeit verändert hat.
In unser aller Leben ist nur ein Faktum ganz gewiss: die Begrenztheit unserer Tage, das Ende, der Tod. Jeder wünscht sich ein langes Leben, möglichst in Gesundheit bis zuletzt, und dann ein sanftes, schmerzfreies Ende. Oft kommt es so, aber oft auch nicht.
Das liegt in der Natur der Sache. Ein ziviler Tod ist die Art von Vollendung unseres Daseins, die Gott sei Dank die Regel ist. Aber wir Menschen sind, so scheint es, die einzige Gattung, die seit Tausenden von Jahren in Kriegen und Eroberungszügen, unter unendlichen Opfern auf der eigenen und gegnerischen Seite, sich selbst bekämpft und vernichtet.
Der Tod ist in Stein gemeißelt
Wie dem auch sei: Zur Kultur der Völker gehört die Art und Weise, wie sie mit ihren zivilen Toten und mit ihren Kriegstoten umgehen. Die antiken Völker – Griechen, Etrusker, Römer – haben da Maßstäbe gesetzt. Man lese nur in der „Geschichte des Peloponnesischen Krieges“ des Thukydides die Trauerrede des Perikles für die im ersten Kriegsjahr (431/430 v. Chr.) gefallenen Athener! Und wir neuzeitlichen Europäer? Die Franzosen haben ihr Grabmal des unbekannten Soldaten mitten in Paris, die Russen ihr gigantisches Denkmal auf deutschem Boden in Treptow, wir Deutschen die wohltuend schlichte, ganz und gar unkriegerische zentrale Gedenkstätte in der Neuen Wache in Berlin: die trauernde Mutter mit ihrem toten Sohn in den Armen, eine Skulptur von Käthe Kollwitz.
Sollte man nur nach vorne blicken?
Und dann begehen wir – nach weit mehr als zehn Millionen Toten im Ersten und mehr als 60 Millionen Toten im Zweiten Weltkrieg – den Volkstrauertag, zwar keinen Staatsfeiertag, aber doch einen staatlichen Gedenktag für die Abermillionen Opfer von Krieg und Gewalt vor noch gar nicht so langer Zeit. Jeder einzelne letztendlich sinnlos Gefallene hatte Vater und Mutter, die ihn mühsam aufzogen – umsonst; hatte eine Frau, Verlobte oder Freundin, die ihn liebte – umsonst; hatte womöglich Kinder, die auf ihn warteten – umsonst! Und haben wir Nachgeborenen sie alle vergessen? Sind sie uns egal? Stören sie uns nur? Sind sie auf den Abraumhalden der Geschichte entsorgt? Auch die jungen Männer, die in unseren Tagen in Särgen aus fernen Einsatzgebieten heimkehren? Diese Gedanken drängen sich dem auf, der den Tod seines Vaters im Zweiten und zweier von dessen Brüdern im Ersten Weltkrieg zu beklagen hat, wenn er die doch recht überschaubare Schar in der Speyrer Kirche oder am Ehrenmal sieht, die alljährlich zu dem von der Stadt Ditzingen überaus würdevoll gestalteten Volkstrauertag kommt. Volkstrauertag (fast) ohne Volk? Volkstrauertag (fast) ohne Volksvertreter? Das Ganze leeres Stroh, bloß ein mühsam am Leben gehaltenes Ritual? Man hörte sogar schon die Mär, dass man mit gutem Gewissen zu Hause bleiben könne, ganz so wie ja auch gläubige Christen auf den sonntäglichen Gottesdienstbesuch verzichteten. Das mag so sein; dann aber sollte man ehrlicherweise sagen: Schluss! Wir schauen nicht mehr zurück, sondern nur noch nach vorn! Aber schon die alten Römer wussten: Zukunft braucht Herkunft. Und deshalb: Erinnerungen – auch Erinnerungsrituale – sind, sofern sie nicht missbraucht werden, für die Kultur eines Volkes, auch für seine seelische Gesundheit, von elementarer Bedeutung. Der kultivierte Mensch zwitschert nicht „wie der Vogel singt, / Der in den Zweigen wohnet“ (Goethe) und lebt nicht als unbewusster Typus von einem Tag zum anderen, sondern gibt seiner Existenz Tiefe, historische Tiefe, damit er auf seinem Weg in die Zukunft weiß, woher er kommt. Gerade weil wir bewiesen haben, dass wir aus unserem entsetzlichen Irrweg mit seinen Hekatomben von Opfern in den zurückliegenden Jahrzehnten die richtigen Konsequenzen gezogen haben und dafür von der Geschichte ganz unerwartet und reichlich belohnt wurden, dürfen wir nicht zu Zeitgenossen in „erinnerungsfeindlicher Zeit“ werden, wie Walter Jens gesagt hat. Vielmehr hoffen wir, dass die Abermillionen Toten uns nicht vorwerfen, sie vergessen zu haben, sondern uns wissen lassen, was der Erzähler im letzten Satz von Thomas Manns großem Roman „Der Zauberberg“, der mit dem mörderischen Ersten Weltkrieg endet, die Überlebenden fragt: „Wird auch aus diesem Weltfest des Todes, auch aus der schlimmen Fieberbrunst, die rings den regnerischen Abendhimmel entzündet, einmal die Liebe steigen?“
Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Gastbeitrag von Ulrich Warnke. Der Germanist und Historiker, war Lehrer und bis 2003 vor allem Leiter des Ditzinger Gymnasiums in der Glemsaue. In Ditzingen sei er „bekannt wie ein bunter Hund“, sagte Oberbürgermeister Michael Makurath einmal über den Oberstudiendirektor außer Dienst. Literarische Spaziergänge, Matineen und Lesungen in der Stadt sind untrennbar mit seinem Namen verbunden.