Was passiert, wenn orientierungslose Patienten plötzlich die Klinik verlassen? Am Welt-Alzheimertag rückt ein Problem in den Fokus, das auch im Rems-Murr-Kreis Realität ist.
Plötzlich ist er weg. Ein Patient mit Demenz verlässt das Krankenhaus, ohne dass es jemand merkt. Kein Abschied, keine Zielangabe, kein Hinweis. Erst beim nächsten Rundgang bemerkt eine Pflegekraft: Das Bett ist leer. Solche Situationen sind in den Rems-Murr-Kliniken nicht die Regel, kommen aber vor. Der 21. September ist Welt-Alzheimertag – ein internationaler Aktionstag, der auf solche Herausforderungen aufmerksam macht.
Menschen mit Demenz oder akuten Verwirrtheitszuständen verlieren im Krankenhausalltag leicht die Orientierung. Manche wissen nicht mehr, warum sie dort sind, erkennen die Umgebung nicht als Klinik – und machen sich auf den Weg, in der Hoffnung, nach Hause zu kommen, einen vertrauten Ort zu finden oder eine bekannte Person. Auch in den Rems-Murr-Kliniken ist es bereits vorgekommen, dass Patienten unbemerkt eine Station oder sogar das Gebäude verlassen haben und vermisst wurden.
Die Häuser in Schorndorf und Winnenden beschäftigen sich deshalb intensiv mit Schutzmaßnahmen, erklärt der Pflegedirektor Giancarlo Cannavò. Ziel sei es, gefährdete Menschen frühzeitig zu erkennen, kritische Situationen zu vermeiden – und im Ernstfall schnell zu reagieren.
Rems-Murr-Kliniken sind eine offene Einrichtung
Generell gilt: Patienten und Patientinnen können sich nach ihrem Ermessen und je nach Gesundheitszustand frei bewegen. „Wir sind eine offene Klinik. Sie können das Zimmer, die Station oder das Gebäude verlassen, ohne das Klinikpersonal darüber zu informieren oder um Erlaubnis zu bitten“, betont Cannavò. Geregelt sei das über das Patientenrecht – aber auch aus praktischen Gründen, etwa zur Förderung der Eigenständigkeit.
Statistische Erhebungen darüber, wie oft sich jemand entfernt oder vermisst wird, existieren in der Klinik nicht. Klar ist jedoch: Für Menschen mit Demenz birgt die Offenheit Risiken. Besonders dann, wenn die Erkrankung nicht im Zentrum der Behandlung steht – etwa bei einem Bruch, einer OP oder internistischen Beschwerden. „Dass Menschen mit einer Demenz durch ein Krankenhaus irren, kommt durchaus öfter vor“, bestätigt Susanna Saxl-Reisen, die stellvertretende Geschäftsführerin der Deutschen Alzheimer-Gesellschaft,
Klinik setzt auf geschulte Pflegekräfte
„Um Risiken frühzeitig einzuschätzen, führen die Kliniken schon bei der Aufnahme eine strukturierte Pflegeanamnese durch“, sagt Pflegedirektor Cannavò. Dabei erfragt und bewertet eine examinierte Pflegefachkraft mögliche Risikofaktoren – etwa Vorerkrankungen, Sturzgefahr, Medikamente oder kognitive Einschränkungen. Diese Einschätzung werde im Verlauf kontinuierlich überprüft und bei Bedarf angepasst.
Im Tagesverlauf betreten unterschiedliche Mitarbeiter, etwa Pflegefachkräfte, ärztlicher Dienst, Servicepersonal und Reinigungskräfte ein Patientenzimmer. „Daher können Auffälligkeiten aus dem Blickwinkel unterschiedlicher Professionen erkannt und der verantwortlichen Pflegefachkraft und der zuständigen Ärztin oder dem zuständigen Arzt gemeldet werden“, so Cannavò. Mindestens alle zwei bis drei Stunden, auch nachts, werde jedes Patientenzimmer betreten. „So können Veränderungen im Zustand oder auffälliges Verhalten frühzeitig auffallen. Bei Bedarf werden Maßnahmen wie eine engmaschigere Betreuung oder der Einsatz technischer Hilfsmittel veranlasst.“
Klingelmatten im Test – Funksignale an Pfleger
Aktuell hat die Klinik einen Test mit sogenannten Sensormatten abgeschlossen. Sie registrieren Bewegungen, sobald eine Person das Bett verlässt, und senden per Funk ein Signal an die zuständige Pflegekraft.
„Früher sprach man von Weglauftendenz – heute von Hinlauftendenz“, erklärt Cannavò. Viele demente Menschen handelten nicht impulsiv, sondern zielgerichtet: Sie wollen dorthin, wo sie ihrer Erinnerung nach hingehören. „Durch die Alarmierung über die Matten können wir schnell reagieren“, sagt der Pflegedirektor.
Die Alzheimer-Gesellschaft bewertet den Einsatz solcher Matten positiv, wenn sie richtig eingesetzt werden. Wichtig sei, dass der Alarm nicht laut im Zimmer ertönt, um Erschrecken und Sturzgefahr zu vermeiden. Als alleinige Maßnahme reichten sie jedoch nicht, vor allem bei mobilen Patienten. Ergänzend könnten technische Lösungen wie Armbänder helfen, die beim Verlassen bestimmter Bereiche einen stillen Alarm auslösen.
Wissen und Haltung im Pflegealltag
Neben technischen Hilfsmitteln setzten die Rems-Murr-Kliniken auf gezielte Schulungen, erklärt Cannavò. Pflegekräfte und ärztliches Personal würden geschult, Risikoverhalten zu erkennen – etwa bei Demenz, psychischen Erkrankungen oder akuten Verwirrtheitszuständen. Themen seien dabei unter anderem Gesprächsführung, Deeskalation und rechtliche Fragen wie das Patientenrecht beim Verlassen der Klinik.
„In Fallbesprechungen stimmen sich Pflegekräfte, Ärzte, Therapeuten und Sozialdienste regelmäßig ab“, so Cannavò. „Ziel ist es, gemeinsam einzuschätzen, wie sich der Zustand der Patientinnen und Patienten verändert – und ob neue Maßnahmen notwendig sind.“ Auch Beschäftigungsangebote, Besuche durch Ehrenamtliche oder feste Ansprechpartner könnten zur Stabilisierung beitragen.
„Menschen mit Demenz brauchen regelmäßige Ansprache – am besten durch vertraute oder konstante Bezugspersonen“, betont Susanna Saxl-Reisen von der Alzheimer-Gesellschaft. Auch Kleinigkeiten könnten entscheidend sein: etwa, ob jemand auf dem Weg zur Untersuchung allein in einem Wartebereich gelassen wird – eine Situation, die bei Menschen mit Demenz leicht zur Desorientierung führen kann.
Wenn ein Patient vermisst wird
Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen kann es passieren, dass ein Mensch plötzlich nicht mehr auffindbar ist. In einem solchen Fall greift in der Klinik ein Notfallplan: interne Suche, Information von Angehörigen – und gegebenenfalls der Polizei. Die Polizei im Rems-Murr-Kreis reagiert in solchen Fällen sofort. Je nach Lage setzt sie Streifenwagen und Spürhunde ein, bei Bedarf auch Wärmebildkameras, Drohnen oder einen Hubschrauber.
Demografische Entwicklung als wachsende Herausforderung
Dass solche Einsätze überhaupt nötig werden, zeigt, wie groß die Herausforderung ist. Mit Blick auf die demografische Entwicklung und die steigende Zahl älterer Patienten werde sich das Problem in Zukunft eher verschärfen, erklärt Saxl-Reisen: „Es gibt mittlerweile zwar einzelne Kliniken, die das Problem erkannt und unterschiedliche Maßnahmen eingeführt haben. Aus unserer Beratung wissen wir aber, dass das erstens noch lange nicht für alle Kliniken gilt und dass es zweitens immer wieder, teilweise auch dramatisch schlimme, negative Erfahrungen mit Krankenhausaufenthalten gibt.“
Da der Anteil von Krankenhauspatienten, die eine Demenz haben, in den nächsten Jahren voraussichtlich weiter steigen werde, sei es wichtig, dass sich die Krankenhäuser in der Breite auf diese Patienten einstellen. „Die Strategien, die die Rems-Murr-Kliniken entwickelt haben, hören sich sehr durchdacht an. Ich hoffe, dass auch die Umsetzung in der Praxis gut und konsequent gelingt“, so Susanna Saxl-Reisen. (Hinweis der Redaktion: Dieser Beitrag wurde anlässlich des Welt-Alzheimertags am 21. September erneut veröffentlicht.)