Die Dynamik des Welthandels lässt seit der Finanzkrise stetig nach. Schuld ist nicht nur die Konjunktur.

Stuttgart - Es ist eine Zäsur: Zum ersten Mal seit 15 Jahren wächst der Welthandel schwächer als die globale Wirtschaftsleistung. Nach der jüngsten Prognose der Welthandelsorganisation WTO, die gerade ihre Erwartungen zum zweiten Mal in diesem Jahr nach unten korrigiert hat, ist 2016 nur mit einem Plus von 1,7 Prozent beim weltweiten Warenaustausch zu rechnen, gegenüber einem voraussichtlichen Wirtschaftswachstum von 2,2 Prozent. Damit setzt sich eine Entwicklung fort, die zu Beginn des Jahrzehnts eingesetzt hat.

 

In den Jahren von 1980 bis zur Finanzkrise 2008/09 ist der globale Handel nach Darstellung des Internationalen Währungsfonds IWF im Durchschnitt noch ungefähr doppelt so stark wie die Wirtschaftsleistung gestiegen. Damals Zeit bürgerte sich der Begriff Globalisierung für diese immer stärkere Verflechtung der Weltwirtschaft ein. Vielen liberalen Ökonomen galt die Globalisierung sogar als ein neues ökonomisches Naturgesetz, als etwas Unumkehrbares. Nach der Finanzkrise ist das Wachstum des Handels aber immer weiter zurückgefallen, auch wenn bis zu diesem Jahr noch das Plus in der weltweiten Warenproduktion übertroffen wurde.

Credit Suisse glaubt nicht an das Ende der Globalisierung

„Das dramatische Nachlassen des Handelswachstums ist ernsthaft und sollte als Weckruf verstanden werden“, sagte WTO-Generaldirektor Roberto Azevedo, und ergänzte: „Das ist besonders wichtig mit Blick auf die wachsende Anti-Globalisierungs-Stimmung.“ Ein Beispiel hierfür nannte Azevedo nicht, aber vor zwei Wochen haben zum Beispiel in Deutschland mehrere Zehntausend Menschen gegen die geplanten EU-Freihandelsabkommen mit Kanada und den USA demonstriert. Als Ursache für die nachlassende Dynamik des Welthandels werden zunächst einmal meist konjunkturelle Gründe angeführt. So verweist auch die WTO auf das schwächere Wachstum in China und Brasilien sowie auch in Nordamerika.

Schon vor einem Jahr hat die Großbank Credit Suisse mit dem Titel eines Berichts Aufmerksamkeit erregt: „Naht das Ende der Globalisierung?“. Die Schweizer verneinen diese Frage zwar, gehen aber davon aus, dass die Globalisierung nicht im bisherigen Tempo weiter voranschreiten wird. Das Forschungsinstitut Prognos und die Bertelsmann-Stiftung, die regelmäßig im Rahmen ihres Globalisierungsreports einen Index ermitteln, kommen sogar zu dem Ergebnis, dass die Vernetzung der Wirtschaft bereits seit der Finanzkrise abgenommen hat. Die Ökonomen packen in ihren Globalisierungsindex Daten zum Handel, zu Handelshemmnissen und zu Kapitalkontrollen ebenso wie zur sozialen Globalisierung (zum Beispiel Tourismus und Migrantenanteil) und zur politischen Verankerung in der Welt (zum Beispiel Mitgliedschaft in internationalen Organisationen und internationale Verträge). Ergebnis: in 35 von 42 untersuchten Ländern ging der Index seit 2007 im Zuge der Lehman-Pleite zurück.

Wer in China verkaufen will, muss dort auch produzieren

Und warum? Thieß Petersen, der bei der Bertelsmann-Stiftung verantwortlich für den Globalisierungsreport ist, nennt neben den Folgen der Finanzkrise und der Wachstumsschwäche in China weitere Gründe. Nach seiner Ansicht ist durch die gestiegenen Löhne in den Schwellenländern ein Anreiz für die großen, meist westlichen Konzerne entfallen, die Produktion ins Ausland zu verlagern. In die gleiche Richtung weist aus seiner Sicht die wachsende Bedeutung der Digitalisierung, zum Beispiel durch die Automatisierung der Fabriken, die unter dem Schlagwort Industrie 4.0 diskutiert wird. So kann es zu Rückverlagerungen kommen.

Philips hat angekündigt, die Fertigung von hochwertigen Rasierapparaten aus China wieder in die Niederlande zu verlagern; Adidas will vom nächsten Jahr an bestimmte Sportschuhmodelle unter Einsatz von Robotern statt in China in Deutschland und den USA produzieren. In der Folge schrumpft der internationale Handel. Hinzu kommt, dass die Schwellenländer auf eine Fertigung vor Ort dringen, die sogenannte Lokalisierung der Produktion. So muss zum Beispiel Daimler vier von fünf Personenwagen, die in China verkauft werden, dort auch bauen. Auch in Brasilien haben die Stuttgarter trotz der schwierigen Rahmenbedingungen wieder eine Personenwagen-Fertigung hochgezogen, um die hohen Einfuhrzölle zu umgehen.

Pro Monat 21 Gesetze oder Verordnungen gegen den freien Handel

Petersen nennt einen weiteren Grund für den Niedergang des Welthandels: „Das nachlassende Wachstum führt dazu, dass sich die Staaten stärker abschotten; der Protektionismus nimmt zu.“ Deshalb betrachten die Konzerne eine Fertigung vor Ort nicht nur als Nachteil. So hat General-Electric-Chef Jeff Immelt in einem Beitrag für die Wirtschaftszeitschrift „Fortune“ geschrieben: „Eine Lokalisierungsstrategie kann nicht durch protektionistische Politik ausgeschaltet werden.“

Die Welthandelsorganisation hat in den sieben Monaten von Mitte Oktober 2015 bis Mitte Mai 2016 insgesamt 145 Schritte zur Beschränkung des Handels gezählt, die die Länder der Gruppe G20 ergriffen haben. Das sind 21 Gesetze oder Verordnungen im Monat, so viel wie noch nie. Von den 1583 Handelsbeschränkungen der G20-Staaten seit dem Jahr 2008 sind nach Kenntnis der WTO nur 387 Maßnahmen später wieder zurückgenommen worden; damit sind 1196 noch in Kraft.

Die G20-Staaten sind die Hauptsünder

Der G20-Gruppe gehören die großen Industrie- und Schwellenländer an. Nach Ausbruch der Finanzkrise wurde die G20-Gruppe aufgewertet, sie sollte eine neue Weltfinanzordnung herstellen und dafür sorgen, dass die Wirtschaftskrise ohne Rückfall in den Protektionismus bewältigt wird. Der britische Wirtschaftswissenschaftler Simon Evenett von der Uni St. Gallen/Schweiz, der einen unabhängigen Beobachtungsdienst für Handelspolitik leitet (GTA – Global Trade Alert), macht die G20-Staaten allerdings für 80 Prozent aller neuen Handelsbeschränkungen verantwortlich, die im vergangenen Jahr eingeführt wurden. Evenetts GTA zählt seit 2008 alle protektionistischen Schritte von Staaten und kommt auf eine Gesamtzahl von brutto 3800 (die Aufhebung von Beschränkungen ist nicht berücksichtigt). www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.herbstprognose-der-aufschwung-ist-nicht-ganz-ungetr...