Reportage: Robin Szuttor (szu)

Vor einem Jahr ist Klaus Bürgle gestorben, er wurde 89. Sein Atelier wirkt, als er hätte er es nur kurz verlassen, um mit dem Hund rauszugehen. Ilse Bürgle hat nichts verändert. Ein „Twen“-Magazin von 1973 liegt auf dem Schreibtisch. An der Wand Aquarelle aus der Provence, wo die Familie immer Urlaub machte. Ein verspielter Briefbeschwerer. Schweres Fotogerät aus den 70er Jahren. Dutzende leere Parfumfläschchen von Ungaro bis Harley-Davidson. Zinnsoldaten, ein Kaugummiautomat, dekorative Tuborg-Bierdosen. „Er hat sich für alles interessiert“, sagt Ilse Bürgle – elegantes Kostüm, schmale Damenuhr, Perlenkette – und schließt die Glastür.

 

Auch die anderen Zimmer tragen noch die Handschrift des Allessammlers. Alte Wählscheibentelefone, tausend Bücher – von Kempowski bis Bukowski, von Hölderlin bis Karl Valentin. Eine Kaminuhr, die die Marseillaise spielt. Das japanische Schränkchen, das er mal angeschleppt hat. Blechspielzeug aus Saint Tropez. Nur zwei Porzellanpüppchen sind von ihr.

Auf dem Klavier haben beide gespielt. Sie eher klassische Improvisationen, er nach Blatt und jazzig. Jetzt ist es still geworden. „Eine merkwürdige Stille“, sagt Ilse Bürgle. Keine Gespräche mehr über Alltägliches, er wusste zu allem etwas Passendes zu sagen. Die Schwarzwald-Standuhr zieht sie täglich auf, damit sie ja nicht stehen bleibt. Sie tickt nicht laut, aber wenn sie gar nicht tickt, ist die Ruhe erdrückend.

Als sie sich kennenlernen, arbeitet Klaus Bürgle für ein grafisches Büro. Ilses Mutter wartet oft am Fenster, wenn er seinen Besuch angekündigt hat: „Warum bleibt der jetzt noch so lange an der Baustelle stehen und guckt?“ Weil ihn Technik fasziniert. Abends malt Bürgle Raketenbilder, die er im Schaukasten der Göppinger Buchhandlung Herwig aushängen darf. Eine Art Homepage der 50er.

Der Raketenmann

Irgendwann spaziert der Chefredakteur von „Das Neue Universum“, das im Union Verlag Stuttgart erscheint, vorbei und sieht die Bilder. Bürgle bekommt den ersten Auftrag, bald ist er Exklusiv-Zeichner des legendären Faltblatts in dem Jahrbuch für technikbegeisterte Jungs. Er wird bekannt als der „Rocket Mann“, der Raketenmann.

Mit feinem Pinselstrich oder Airbrush-Technik erschafft er Fähren, die zwischen Erde und Raumstationen pendeln. Trägerraketen mit Atomantrieb bugsieren Weltraumschiffe huckepack zum Mars. Eine Raumstation, 45 Meter im Durchmesser, wird zusammengeklappt an den Booster einer Saturn-Kapsel gedockt ins All geschossen. Auf dem Mond türmen sich Ringgebirge inmitten von Wüsten. Grell einfallendes Sonnenlicht setzt scharfe Konturen auf den blatternarbigen Boden. Mit mächtigen Maschinen, den Urtieren des technischen Zeitalters, rücken die Menschen an und wühlen sich auf der Suche nach Bodenschätzen in den unberührten Grund.

Riesige Radieschen

In einem Megakrater entsteht die erste Mondstadt. Eine gewaltige Kunststoffkuppel spannt sich vor den nachtschwarzen Himmel. Luftgebläse schaffen ein Erdenklima. Sonnenbatterien spenden Energie. Radieschenpflanzen wachsen wegen der geringen Schwerkraft so hoch wie Dattelpalmen. Raumfahrer starten in ferne Sternensysteme. Ein glutheißer Sonnenball übergießt schroffe Bergwelten mit leuchtendem Rot, das im Dunst giftgelber Gase verschwimmt. Aber auch hier gibt es Leben.

Die allermeisten (und die schönsten) von Bürgles Zeichnungen sind heute nicht mehr im Original auffindbar. Nach ihrer Veröffentlichung werden sie in die Archive der Zeitschriftenverlage eingelagert, verschwinden von der Bildfläche. Dann verliert sich ihre Spur. Vielleicht reißen sich heimliche Liebhaber die Werke unter den Nagel. Vielleicht landen sie irgendwann beim Großreinemachen einfach im Müll.

Erst spät wird Bürgle als Künstler und bedeutender Vertreter des Retro-Futurismus gewürdigt. Sein ganzes Arbeitsleben lang gilt er als Gebrauchsgrafiker – als begnadeter freilich, der einen exzellenten Ruf genießt und „tierisch viel Geld verdiente“, wie Werner Meyer, Leiter der Göppinger Kunsthalle, weiß. Er hat den Künstler Bürgle entdeckt. „Als in den 90er Jahren die Betrachtung zwischen angewandter und großer Kunst neu begann, wurde mir klar, dass Bürgle eine herausragende Figur war“, sagt er. „Auf seinem Niveau und in seiner Sparte gab es höchstens drei vergleichbare Maler – zwei von der Nasa und ein Russe.“

„Twen“-Magazine, Zinnsoldaten und Bierdosen

Vor einem Jahr ist Klaus Bürgle gestorben, er wurde 89. Sein Atelier wirkt, als er hätte er es nur kurz verlassen, um mit dem Hund rauszugehen. Ilse Bürgle hat nichts verändert. Ein „Twen“-Magazin von 1973 liegt auf dem Schreibtisch. An der Wand Aquarelle aus der Provence, wo die Familie immer Urlaub machte. Ein verspielter Briefbeschwerer. Schweres Fotogerät aus den 70er Jahren. Dutzende leere Parfumfläschchen von Ungaro bis Harley-Davidson. Zinnsoldaten, ein Kaugummiautomat, dekorative Tuborg-Bierdosen. „Er hat sich für alles interessiert“, sagt Ilse Bürgle – elegantes Kostüm, schmale Damenuhr, Perlenkette – und schließt die Glastür.

Auch die anderen Zimmer tragen noch die Handschrift des Allessammlers. Alte Wählscheibentelefone, tausend Bücher – von Kempowski bis Bukowski, von Hölderlin bis Karl Valentin. Eine Kaminuhr, die die Marseillaise spielt. Das japanische Schränkchen, das er mal angeschleppt hat. Blechspielzeug aus Saint Tropez. Nur zwei Porzellanpüppchen sind von ihr.

Auf dem Klavier haben beide gespielt. Sie eher klassische Improvisationen, er nach Blatt und jazzig. Jetzt ist es still geworden. „Eine merkwürdige Stille“, sagt Ilse Bürgle. Keine Gespräche mehr über Alltägliches, er wusste zu allem etwas Passendes zu sagen. Die Schwarzwald-Standuhr zieht sie täglich auf, damit sie ja nicht stehen bleibt. Sie tickt nicht laut, aber wenn sie gar nicht tickt, ist die Ruhe erdrückend.

Als sie sich kennenlernen, arbeitet Klaus Bürgle für ein grafisches Büro. Ilses Mutter wartet oft am Fenster, wenn er seinen Besuch angekündigt hat: „Warum bleibt der jetzt noch so lange an der Baustelle stehen und guckt?“ Weil ihn Technik fasziniert. Abends malt Bürgle Raketenbilder, die er im Schaukasten der Göppinger Buchhandlung Herwig aushängen darf. Eine Art Homepage der 50er.

Der Raketenmann

Irgendwann spaziert der Chefredakteur von „Das Neue Universum“, das im Union Verlag Stuttgart erscheint, vorbei und sieht die Bilder. Bürgle bekommt den ersten Auftrag, bald ist er Exklusiv-Zeichner des legendären Faltblatts in dem Jahrbuch für technikbegeisterte Jungs. Er wird bekannt als der „Rocket Mann“, der Raketenmann.

Am Anfang ist das Wort. Vorlage für ein Bürgle-Werk ist immer der Text, wie er dann später in der Zeitschrift erscheint. Auf welche Weise er den Raum auskleidet, bleibt Bürgles Fantasie überlassen. „90 Prozent der Bilder war Forscherwissen, der Rest meine Imagination“, gibt er einmal Auskunft. „Ich hatte den Anspruch, präzise, aber nicht steril zu zeichnen. Die Atmosphäre spielte eine große Rolle.“

Das macht Bürgle aus: Er malt nicht ins Blaue hinein wie die Science-Fiction-Zeichner seiner Zeit. Er fantasiert über Dinge, die gerade im Werden sind. Vieles wird tatsächlich wahr und ist dann erstaunlich nah an Bürgles Vision. Jahre bevor Teleskope um die Erde rotieren, hat er sie schon ins All gepflanzt. Als 1969 Neil Armstrong erste Gehversuche auf dem Mond macht, hat Bürgle das Ereignis längst gestochen scharf und in Farbe vorausempfunden. Nur seinen Marsmissionen hinkt die Echtzeit immer noch hinterher. „Diese Bilder sind ein Stück Geschichte des 20. Jahrhunderts“, sagt Werner Meyer, Jahrgang 1953, der als Jugendlicher auch Feuer und Flamme ist für die Raumfahrt.

Was Bürgle zeichnet, ist damals Popkultur. Die Aufbruchsstimmung schließt das All mit ein. Naturwissenschaftlern traut man alles zu. Hinzu kommt der Sputnik-Schock. 1957 schießt die UdSSR die Hündin Laika, 1961 Juri Gagarin ins All. Der Westen hält mit einer Bildungsgroßoffensive dagegen. Junge Menschen sollen Ingenieure werden. Bürgle zeigt ihnen im „Neuen Universum“, in „Hobby“, einem Technikmagazin für junge Leute, oder in „Bild der Wissenschaft“, wohin die Reise geht. Werner Meyer erinnert sich noch, dass Ingenieure damals vor Schulklassen für ihren Beruf werben. Meyer lässt sich anstecken: Ein Ingenieur, der mit einem 911er-Porsche auf das Schulgelände rollt, macht auch auf einem humanistischen Gymnasium Eindruck. Es dauert noch eine ganze Weile, bis Meyer wieder zur Vernunft kommt.

Bürgles virtuelle Welten

In den 80er Jahren schaffen Computer eigenständige virtuelle Welten. Das technologische Wettrüsten erlahmt. Und irgendwie schwächelt auch der ganze Menschheitstraum vom Universum. Klaus Bürgle erlebt aber nie einen beruflichen Einbruch. Es gibt noch genug wissenschaftliche Artikel zu illustrieren, Neuerungen der Motoren- oder Fototechnik, Prospekte für Märklin, Energie- und Verkehrsvisionen zu zeichnen. Oder Sportwagen.

In „Hobby“ erscheinen Auto-Testberichte. Er macht die Bilder dazu. Meisterhaft geschwungene Linien, raffinierte Spiegelungen im Lack: Was ist ein schnödes Foto gegen Bürgles Hyperrealismus? Meistens bleibt es nicht beim Zeichnen, Bürgle kauft sich das Auto gleich dazu. Bei „bella macchinas“ wie Lamborghini, Ferrari, De Tomaso, Maserati wird er schwach. Auch Morgan, Aston Martin, Jaguar sieht man im Göppinger Hailing-Viertel. Mit ihnen kreist der Raketenmann in seiner eigenen Umlaufbahn. Ein großer Sparer ist er nicht. „Er war immer unterwegs. Auf der ganzen Welt. Er brauchte seine Freiheit, und ich habe sie ihm gelassen“, sagt Ilse Bürgle.

Sie ist gelernte Buchhändlerin. Bis zur Heirat arbeitet sie bei der Deutschen Verlagsanstalt, dann kümmert sie sich um den Haushalt und zieht die Tochter groß. Seit 57 Jahren lebt sie in dem Göppinger Haus zur Miete. Ein reizvoller Altbau, der Garten üppig bewachsen. Eine brüchige Schönheit. Meterlange Risse ziehen sich wie fette Krampfadern durch die Wohnung. Die frühere Eigentümerin, eine Floristin, die Parterre wohnte und das Treppenhaus immer mit Blumenmalerei schmückte, ist vor Kurzem gestorben. Der neue Besitzer hat jetzt an syrische Flüchtlinge vermietet, die Efeupracht an der Fassade und die Sträucher zur Straße wegrasiert. Alles kahl. „Früher nannten wir es immer unser Dornröschenhaus“, sagt Ilse Bürgle. Ohne ihren Mann ist nichts mehr, wie es war.

Er isst nichts mehr

Zwei Jahre geht es bergab mit ihm. Durchblutungsstörungen, Schmerzen, Lähmungen im Bein, Rollator. Nicht mehr malen, nicht mehr fotografieren, keine Autofahrten mehr, keine Spaziergänge mit dem Hund. „Das konnte er nicht akzeptieren“, sagt Werner Meyer. Irgendwann bricht Bürgle zusammen, entlässt sich aber gleich selbst wieder aus der Klinik. Er hört auf zu essen. „Er wollte einfach nicht mehr“, sagt Ilse Bürgle. Am 30. Juni 2015 stirbt er.

„Er war sehr stolz, dass man ihn auf seine alten Tage noch als Künstler gewürdigt hat, seine Werke über den Moment hinaus wichtig sind“, sagt Werner Meyer. „Wobei es ihm vorrangig auch darum ging, aus den Bildern Geld zu machen – was ja nicht meine Aufgabe ist.“ Meyer würde gerne ein festes Bürgle-Archiv einrichten und dessen Werke immer wieder mit verschiedensten Künstlern in Zusammenhang bringen. Dafür braucht er die verbliebenen Originale aus dem Besitz der Familie. Bisher konnte er sie nicht überzeugen. „So ein Archiv nur mit alten Zeitschriften-Ausgaben zu bestücken wäre zu dürftig.“ Und selbst die alten Magazine sind nicht mehr so leicht aufzutreiben. Meyer hat schon überall nach seinen eigenen Heften gesucht, mit denen er sich als Bub hinauf zu den Sternen träumte. Aber sie sind verschollen in den unendlichen Weiten seiner häuslichen Ordnung.