Die im Zweiten Weltkrieg beschädigte große Glocke der Herrenberger Stiftskirche ist ersetzt worden. Die Vaterunser-Glocke ist das erste Geläut weltweit, das den Corona-Erreger zeigt.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Herrenberg - Wenn Krieg ist, sterben Menschen und Glocken. Den Ersten Weltkrieg hatte sie noch unversehrt überstanden, die große Guldenglocke der Herrenberger Stiftskirche aus dem Jahr 1605. Aber im Zweiten Weltkrieg sollte sie eingeschmolzen werden. Die 2,5 Tonnen Erz wurden vom Turm der Stiftskirche herabgelassen, doch die Glocke wollte offenbar nicht in den Krieg ziehen – mit ihren 1,52 Metern Durchmesser passte sie nicht durch das Portal.

 

Die Arbeiter wollten sie mit Eisenhämmern zerschlagen, doch sie war zu massiv. Also brach man Steine aus dem Kirchenportal, bis der Durchgang breit genug war, und transportierte sie nach Lünen im Ruhrgebiet. Dort blieb sie bis zum Kriegsende, weil ihr Material nicht gut genug war für die Gießereien. In den 50er Jahren kam sie nach Herrenberg zurück. Allerdings war sie durch die rüde Behandlung verstimmt – nicht nur im metaphorischen Sinne. Durch die Hammerschläge hatte ihr Körper Risse bekommen, die Fehltöne erzeugten.

Die Misstöne blieben

1998 wurde sie geschweißt, doch die Misstöne blieben; 2006 wurde noch einmal der Schweißbrenner angesetzt. Als sie daraufhin immer noch falsche Töne produzierte, war es Karl Hammer, dem Leiter des Herrenberger Glockenmuseums, zu viel. Er hob 55 000 Euro von seinem Konto ab und stiftete der Herrenberger Kirchengemeinde eine neue Glocke.

Sie wurde bei Bachert im schwäbischen Neunkirchen gegossen und bekam einen neuen Namen: Vaterunser-Glocke, weil sie dann angeschlagen wird, wenn im Gottesdienst das Vaterunser gesprochen wird. Die alte Glocke trug den Namen Guldenglocke, weil sie als größter Klangkörper im Herrenberger Kirchturm von mehreren Personen gezogen werden musste, was Hochzeitspaare und Taufeltern so manchen Gulden kostete.

Zurzeit sieht man die neue Glocke außen an der Kirchenmauer hinter einem Gitter stehen. Ende Oktober wird sie außen am Turm hoch- und in den Glockenstuhl eingezogen. Zum Beginn des neuen Kirchenjahres am ersten Advent wird sie eingeweiht werden.

Ausgefeiltes Bildprogramm

Die Glockenzier der neuen Vaterunser-Glocke hat ein sehr ausgefeiltes Bildprogramm. Man sieht die Arche Noah als Symbol für das Schiff der Kirche, das „ruhig durch das Meer der Zeit navigiert“, so erklärt der Herrenberger Dekan Eberhard Feucht mit Begeisterung das Motiv, das sein Vorvorgänger im Amt, Dieter Eisenhardt, gestaltet hat. Das Vaterunser, das am weitesten verbreitete Gebet der christlichen Welt, bestimmt auch Teile der Glockenhaut. Der Text läuft unten um den Glockenmund, die Engel oben an der Aufhängung tragen die Texttafeln.

Man sieht den Regenbogen, der nach der Sintflut den Menschen verheißt, dass Saat und Ernte nie enden werden, „solange die Erde steht“, wie es im ersten Buch Mose heißt. Und man sieht nicht nur den Lindwurm des Bösen, sondern auch das Corona-Virus in Bronze. Beides wird niedergehalten von der Hand des Gekreuzigten, der die Menschen beschirmt. Und damit hat die größte Glocke der schönsten Kirche im Gäu einen erstaunlichen Superlativ bekommen: Es ist die einzige Glocke der Welt, auf der die Pandemie des Jahres 2020 eingezeichnet ist. Die Jahreszahl selbst wird ebenfalls zu einer eindrucksvollen grafischen Form: „MMXX“ steht auf der Glocke in lateinischen Zahlen.

Frieden halten!

Die Guldenglocke hat 400 Jahre überstanden. Wie lange wird wohl die Vaterunser-Glocke leben? „Es liegt an uns“, meint Burkhard Hoffmann vom Verein zur Erhalt der Herrenberger Stiftskirche, „wir müssen den Frieden halten.“ Nur dann wird diese Glocke nicht in den Schmelzöfen der Rüstungsindustrie verschwinden. So soll ihr Glockenschlag jeden Sonntag die Menschen zum Frieden mahnen. Eine ihrer kleinen Schwestern tut das unter der Woche: Die Friedensglocke läutet werktags um die Mittagszeit.