Wem gehört die Popmusik? Mehr als nur Schwarz und Weiß

Weibliche Freuden- und Schmerzensmusik auf afroamerikanischer Grundlage: Es war viel Billie Holiday und Bessie Smith in Amy Winehouse – bevor sie im grellsten Licht verglühte. . Foto: AFP/Jeff Pachoud

Nur zum Beispiel: Elvis Presley ist ohne afroamerikanische Vorbilder als prägende Figur undenkbar. Aber es gibt auch Gegenbewegungen in der Musikgeschichte, die davon lebt, dass unterschiedliche Ethnien voneinander profitieren. Ein Überblick.

Stuttgart - Erst Elvis, später die Rolling Stones, dann Eminem oder hierzulande die Fantastischen Vier: Seit Jahrzehnten gehört die Eroberung ursprünglich schwarzer Genres von Rhythm & Blues bis Hip-Hop durch weiße Musiker zur Tradition. Angefangen hat diese Mitgestaltung schwarzer Popularmusik in den frühen 1950er Jahren in Memphis, als der junge Elvis Presley zwischen ein paar Transporten als LKW-Fahrer in den Sun-Studios des Produzenten Sam Phillips vorbeischaute, um seiner Mutter zwei Geburtstagsständchen auf eine Single pressen zu lassen. Noch reichlich schüchtern schmachtete sich der spätere King of Rock’n’Roll also durch zwei brave Countrylieder namens „My Happiness“ und „That’s when your Heartaches begin“.

 

Doch ein paar Monate später hörte sich das alles schon ganz anders an. Zusammen mit den Sun-Studiomusikern Scotty Moore (Gitarre) und Bill Black (Bass) kippte der bereits in jungen Jahren explizit an schwarzer Musik interessierte Elvis eine gehörige Portion Rhythm & Blues in den countryesken weißen Ursprungssound, und es war die Geburtsstunde von Rockabilly und Rock’n’Roll.

Wie in einer chemischen Reaktion trafen fortan zwei zuvor meist sorgsam voneinander getrennte Substanzen aufeinander und entwickelten eine Energie, die die Musikwelt für immer verändern sollte – prägnant nachzuhören etwa bei den Rolling Stones, als Mick Jagger, Keith Richards & Co. ab Mitte der sechziger Jahre damit begannen, die Musik von Blues-Veteranen wie Chuck Berry und Muddy Waters mit jugendlicher Rock-Chuzpe und dem Flair des Swinging London zusammenzubringen.

Das amerikanische Bürgertum war amüsiert

Bei genauerer Betrachtung allerdings begann die Annäherung von weißen Musikern an schwarze Klangwelten schon deutlich vor Elvis und den Stones – und zwar auf weit problematischerem Niveau. Bereits Mitte des 19. Jahrhunderts parodierten in den amerikanischen Nordstaaten zunächst ausschließlich weiße Künstler mit schuhcremegeschminkten Gesichtern die Kultur ihrer afroamerikanischen Mitbürger.

Aus schwarzen Arbeiterliedern, Spirituals und Sklavengesängen machten diese „Minstrel Shows“ einen brachialen Klamauk voll unverhohlen rassistischer Tendenzen, der gleichwohl beachtliche Resonanz erfuhr: Das weiße amerikanische Bürgertum zeigte sich prächtig amüsiert, und sogar die schwarze Community selbst wurde phasenweise Teil dieser krachledernen Geschmacklosigkeiten, ehe sie Ende des 19. Jahrhunderts auf die Minstrel-Revuen mit wachsendem Selbstvertrauen und raueren, stärker rhythmisierten Klängen antwortete. Das wiederum war der Auftakt für Genres von Ragtime über Blues bis zum Jazz.

Und heute? Das Muster von schwarzer Urheberschaft und weißem Epigonentum ist nach wie vor Teil der Mechanismen im Popbusiness. Gleichwohl zeigt sich das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß mittlerweile deutlich ausdifferenzierter und hat über die Jahrzehnte eine Fülle an künstlerischen und kommerziellen Erfolgen hervorgebracht, in musikalischen Nischen ebenso wie im Mainstream.

Famoses gelang beispielsweise den englischen Straßenjungs von Dexy’s Midnight Runners, als sie mit ihrem Debütalbum „Searching for the young Soul Rebels“ (1980) den Sound von schwarzen amerikanischen Rhythm & Blues- und Soul-Größen vor dem Hintergrund der englischen Punkbewegung umarmten – ihren ersten Hit „Geno“ widmete die Band aus Birmingham dem US-Altmeister Geno Washington.

Phil Collins recycelte die Supremes

Zum Hitparadenkönig avancierte wenig später Phil Collins, als er den in die Jahre gekommenen Prog-Rock von Genesis gegen den leichtfüßigen Sound des Soul-Labels Motown Records austauschte und den Supremes-Evergreen „You can’t hurry Love“ für eine weiße Popkundschaft recycelte. Und mit „Going Back“ widmete Collins dem Sound von Motown & Co. 2010 gar ein ganzes Album.

Auch die Jahrhundertstimme Amy Winehouse erfand ihre bestechende Version von weiblicher schwarzer Schmerzens- und Freudenmusik nicht komplett neu, sondern baute ihr Oeuvre auf dem musikalischen Kosmos von Vorgängerinnen wie Billie Holiday oder Bessie Smith auf. Und das erste Hip-Hop-Album an der Spitze der amerikanischen LP-Hitparade? Stammte – natürlich – nicht von einem schwarzen Künstler, sondern von dem weißen New Yorker Trio Beastie Boys.

Aber lässt sich deshalb tatsächlich von einem Raub schwarzer Musik durch weiße Musiker sprechen? Schließlich kann man – in Form von Kompositionsrechten – einen Song besitzen, nicht aber einen Sound, ein Genre. So lange also juristisch alles korrekt zugeht und individuelle Kompositions- und Verwertungsrechte respektiert werden, entsteht im besten Fall eine schwarz-weiße Win-Win-Situation, ein Business-Crossover zum beiderseitigen Vorteil. Die Erben des „You can’t hurry Love“-Komponistentrios Holland/Dozier/Holland können sich jedenfalls über sehr ordentliche Tantiemen freuen, die ihnen Phil Collins’ Neuaufnahme aufs Konto gespült hat. Auch jenes Songwriterquartett, das den Klassiker „Rapper’s Delight“ komponierte, lebt exzellent von seinem dutzendfach weiterverwendeten Werk – derzeit wirbt zum Beispiel ein spanisch-französischer Luxusartikel-Konzern mit diesem mittlerweile vierzig Jahre alten Urknall des Rap für ein neues Parfüm. Geld fließt im Idealfall also reichlich im immer weiter verzweigten Business der Popmusik, für alle Beteiligten.

Und jenseits des Geschäftlichen? Beharrlich erneuern sich auf kreativer Ebene die über Jahrzehnte etablierten Strukturen zwischen Trendsettern und Nachzüglern, noch immer werden genuin schwarze Genres binnen Kurzem von Heerscharen an weißen Kollegen gekapert, sobald sie sich als erfolgversprechend und künstlerisch reizvoll herauskristallisieren – aktuell etwa der Trap-Sound, die dunkle, synthesizerlastigere Schwester des Hip-Hop.

Mehr als eine Einbahnstraße

Doch lässt sich das Verhältnis von schwarzer zu weißer Musik möglicherweise auch ganz anders interpretieren denn als künstlerische Einbahnstraße? Etwa als eine Emanzipation aus den ursprünglichen Biotopen der Black Music und als Eroberung einer Welt jenseits der Baumwollfelder, Baptistenkirchen und Gospelchöre? Schwarze Genres haben heute jedenfalls einen Kosmos weit jenseits ihrer einstigen Lebensräume erreicht – heute tanzt zu Klängen von Soul bis Rap und Hip-Hop nicht mehr nur die schwarze Community, sondern auch eine weiße Kundschaft in schicken Lofts und Penthouses. Der Weg zur internationalen Konsensmusik für fast alle Fälle hat allerdings seinen Preis: Je näher sich Schwarz und Weiß insbesondere auf dem Parkett des modernen, zu weiten Teilen digital konfigurierten Rhythm & Blues der Gegenwart kommen, desto beliebiger klingen die Resultate.

Nicht ganz so austauschbar wirkt der Transfer der Töne hingegen in umgekehrter Richtung. Denn längst hat die Black-Music-Gemeinde gekontert und sich ihrerseits Zugriff auf Elemente der weißer Popularmusik verschafft – immer mal wieder mit erstaunlichen Ergebnissen. Aktuell nutzte der kanadische Rapper The Weeknd eine Keyboardmelodie seines schwedischen Kompagnons Max Martin für seinen Song „Blinding Lights“ und landete damit den Pophit des Jahres 2020. Zwei, drei Dekaden zuvor waren es HipHop-Künstler wie African Bambaata, Dr. Dre oder Timbaland, die Fragmente der Elektropop-Pioniere Kraftwerk für innovative Soundcollagen verwendeten. Michael Jackson wiederum erkannte mit Produzent Quincy Jones das Potenzial, das in einer Kombination aus Black Pop und Hard-Rock steckte und landete mit „Beat it“ und dank eines furiosen Solos von Meistergitarrist Eddie Van Halen einen Coup für die Ewigkeit, und die New Yorker HipHop-Gang A Tribe Called Quest verarbeitete in ihrem Track „Can I kick it?“ gar Elemente des Rock-Avantgardisten Lou Reed und des sowjetischen Klassik-Neutöners Sergei Prokofjew.

Und Motown Records? War die 1960 gegründete Kultfirma des Soul nicht selbst ein explizites Angebot schwarzer Musikproduzenten an eine weiße Hörerschaft? „Motowns große Leistung war, schwarze Musik direkt auf weiße, amerikanische Teenager loszulassen“, analysierte Jerry Wexler, Vizepräsident von Atlantic Records, der neben Motown und Stax wichtigsten Heimstätte des amerikanischen Soul, einst das Geschäftsmodell der Konkurrenz aus Detroit. Schließlich sorgten bei einer Reihe von schwarzen Labels jede Menge weiße Musiker für einen authentischen Sound – so avancierten ausgerechnet die weißen Studiomusiker Steve Cropper (Gitarre) und Donald „Duck“ Dunn (Bass; beide später Mitglieder der Liveformation der Blues Brothers) mit ihrer Formation The Mar-Keys zur ersten Hausband von Stax.

Es liegt nicht nur an der Hautfarbe

So scheint es weniger die Hautfarbe ihrer Schöpfer zu sein, die einer Musik ihre finale Identität verleiht, sondern vielmehr das Seelenleben seiner Protagonisten, das die neuen oder neu hinzugekommenen Trennungslinien im Popbusiness definiert – und das wiederum umfasst weitere Faktoren als lediglich Hautfarbe und Herkunft. Vollkommen zu Recht thematisieren die afroamerikanischen Bürgerrechtsinitiativen vom Civil Rights Movement der 1950er- und 60er Jahre bis zur aktuellen Black-Lives-Matter-Bewegung die Benachteiligung von und den Rassismus gegenüber Menschen schwarzer und farbiger Herkunft. Freilich findet Ausgrenzung und Diskriminierung auch auf anderen Ebenen statt – und selbst innerhalb von vermeintlich homogenen Soziotopen. Die englische Sängerin Anhoni, zuvor als Anthony Hegarty Frontmann der Artpop-Formation Anthony & The Johnsons, kann seit ihrer Geschlechtsumwandlung jedenfalls mehr als nur ein Lied davon singen, wie schwierig es sich als weiße Transgender-Persönlichkeit lebt. Und schon Scott Joplin, der König des Ragtime, erfuhr selbst in seiner afroamerikanischen Umgebung massive Ablehnung, als er 1911 seine Oper „Treemonisha“ komponierte – zu kontrovers und etablierte Denkmuster infrage stellend war sein Blick auf das Verhältnis zwischen Schwarz und Weiß.

So sollte nicht nur in der Popszene das Verhältnis zwischen den Akteuren also eher in Zwischentönen und nicht in bloßen Kontrasten gedacht werden. Schließlich winkt für Respekt gegenüber individuellen Diversitäten jenseits von reinen Schwarz-weiß-Mustern eine gesellschaftliche Vielfalt wie nie zuvor – kann der Popszene, kann der Kunst insgesamt etwas Besseres passieren?

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