Auf dem Hofgut ihrer Eltern errichtete die SS ein KZ – und obwohl fast 100 berichtet Wendelgard von Staden beeindruckend eindrücklich über diese Zeit. Wobei ihr ganzes Leben beeindruckend ist.

Eindrücklich und eindrucksvoll – auf diesen Nenner lässt sich das Zeitzeugengespräch mit Wendelgard von Staden im Dokumentationszentrum des KZ Hailfingen-Tailfingen bringen. Eindrücklich schildert sie die Geschehnisse auf dem Hofgut ihrer Eltern in der NS-Zeit, die sie in den letzten Kriegsmonaten als damals 19-Jährige erlebt hat. Gleichzeitig sind ihre Erinnerungen an ihre Zeit in den USA eindrucksvoll – ebenso ihre klaren und differenzierten Antworten zum aktuellen politischen Zeitgeschehen.

 

„Für die 99 kann ich nichts“, entgegnet Wendelgard von Staden auf die letzte von vielen Fragen aus dem Publikum, wie sie sich ihre Ausstrahlung und ihr Charisma bis ins hohe Alter bewahrt hat. Aber: „Ich habe ein sehr interessantes Leben gehabt“ und sei „relativ nah an den Dingen“ gewesen.

Engagierte Mutter

In dieses Leben hat die Frau, die als eine der ersten Nationalökonomie in Tübingen studierte, ihre Zuhörerschaft im pickepackevollen Seminarraum im Alten Rathaus zuvor über eine Stunde lange mitgenommen. Dort ist seit 2010 das Dokumentationszentrum der KZ-Gedenkstätte beheimatet. Wendelgard von Stadens Anknüpfungspunkt an Tailfingen hat einen Namen: Peter A. Zuckermann (1929-2020).

Wendelgard von Staden Foto: Käthe Ruess

Dieser war schwer krank aus Hailfingen-Tailfingen ins KZ Wiesengrund in Kleinglattbach im Kreis Ludwigsburg gekommen und gehörte damit zu den Häftlingen, für die sich ihre Mutter Irmgard von Neurath mit ihr einsetzte. Diese habe mit dem Lagerkommandanten ausgehandelt, dass die Lieferung von Stroh und Bohnen für das Lager durch Insassen erfolgen sollte, berichtet Wendelgard von Staden. So konnten sie wenigstens diese 30 Personen heimlich verpflegen.

Die Kontaktaufnahme sei schwierig gewesen, weil das Misstrauen der Häftlinge groß gewesen sei. Auch sie selbst hätten vor den sie begleitenden Wachmännern auf der Hut sein müssen. „Was wir mitgekriegt haben, war nur ein winziger Ausschnitt der riesigen Vernichtungsmaschinerie, die im Gange war“, fasst Wendelgard von Staden ihre Erinnerungen zusammen. Diese hat sie sich in ihrem autobiografischen Bericht „Nacht über dem Tal: Eine Jugend in Deutschland“ wie sie selbst sagt „vom Hals geschrieben“.

60 Jahre nach seiner Befreiung aus dem Lager dann das Wiedersehen mit Peter A. Zuckermann. Wendelgard von Staden führte ihn zum Grab ihrer Mutter. „Ich wollte mich immer bei Ihrer Mutter bedanken – und jetzt konnte ich es am Grabstein“, sagte er. Dass er diese Dankbarkeit nie vergessen hat, habe sie „unglaublich berührt.“

Eintritt in den Auswärtigen Dienst

Oft habe sie von diesen Geschehnissen in Schulen berichtet und war als Dolmetscherin bei Begegnungen junger Leute mit Überlebenden des KZ Wiesengrund dabei. Dabei nehme sie die jungen Leute als „sehr interessiert“ wahr. Aber: „Eigentlich verstehen können sie die ganze Sache nicht“ – und so sei es bei Lichte betrachtet angesichts der unvorstellbaren Opferzahlen auch. Denn: „Es ist ein solcher Wahnsinn gewesen.“

In ihrer Einschätzung zu den Gräueltaten, von denen es aktuell viele gibt, ist sie ganz klar: „Es ist dieselbe Geisteshaltung“. Leute, die zu solchen Taten fähig sind, seien entweder gestört oder so ideologisiert, dass sie normalen Argumenten nicht zugänglich seien, meint die Frau, die sich – weil ihr „absolut nichts anderes einfiel“ – für den Auswärtigen Dienst gemeldet hat, als dieser kurz zuvor auch für Frauen geöffnet worden war.

Reise nach Israel

In Brüssel lernte sie ihren späteren Mann Berndt von Staden kennen, der von 1973 bis 1979 deutscher Botschafter in Washington war. Vier Präsidenten – von Nixon bis Carter – hat das Paar sie in dieser Zeit erlebt. Wendelgard von Staden blickt mit einem Augenzwinkern auf die unbeholfenen ersten Schritte der engsten Mitarbeitenden von Jimmy Carter zurück, und ist ernsthaft, wenn sie über auf die von ihm initiierten Verhandlungen zwischen Ägypten und Israel in Camp David berichtet. Diese führten schließlich 1978 zum Friedensvertrag zwischen den beiden Ländern.

Die aktuelle Situation in Israel bewege sie sehr. Vor Kurzem erst ist sie noch in dem Land gewesen. Die 99-Jährige berichtet von „Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit“ ihrer Freunde dort über die Politik der Regierung Netanjahu. Und sie befürchtet, dass die aktuelle Situation „den Hass gegen die Juden zementiert für das nächste Jahrhundert.“

Grauen in der Nachbarschaft

KZ Hailfingen-Tailfingen
 Das etwas über einen Kilometer südwestlich vom Gäufeldener Teilort Tailfingen gelegene Arbeitslager war von November 1944 bis Februar 1945 Außenstelle des KZ Natzweiler-Struthof. Insgesamt rund 2000 Kriegsgefangene, Zwangsarbeiter, darunter 601 jüdische KZ-Häftlinge, die am 19. November 1944 ankamen, waren beim Bau und Erweiterung des dortigen Flugplatzes zur Arbeit gezwungen worden. Als die Alliierten näher rückten, wurde das Lager Mitte Februar 1945 geräumt. 111 der überlebenden Häftlinge kamen nach Vaihingen/Enz. Weitere wurden nach Dautmergen, Allach und Bergen-Belsen gebracht.

KZ Wiesengrund
Dieses wurde im August 1944 auf enteignetem Grund des Hofguts von Wendelgard von Stadens Eltern in Kleinglattbach, einen Stadtteil von Vaihingen/Enz, ebenfalls als Außenlager von Natzweiler-Struthof errichtet. Zuerst war es ein Arbeitslager, dessen Insassen zunächst für die Idee der Verlagerung der Rüstungsindustrie in unterirdische Bunkeranlagen schuften mussten. Später wurde es Kranken- und Sterbelager – im SS-Jargon euphemistisch als „Kranken- und Erholungslager“ bezeichnet. Rund 2000 Menschen kamen hier ums Leben.