Das Jazzfestival Esslingen hat den US-Gitarristen John Scofield eingeladen, der am Freitag im Theaterhaus mit Country-Songs dekonstruierte und nobilitierte.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Stuttgart - Red River Valley“ geht: G, D7, G, D7, G, G7, C, D7 , G; kein Hexenwerk also. Andererseits öffnen sich geradezu ganze Canyons an Bedeutung mit jedem Akkordwechsel: Zum einen sieht man John Fords Film nach John Steinbecks Roman „Früchte des Zorns“ vor sich, den das Lied prägt, und hört zugleich Bruce Springsteen, wie er, viel später, immer noch nach der Hauptfigur sucht in „The Ghost Of Tom Joad“. Leonard Cohen hat das traurige Cowboylied immer sehr gemocht und so unterschiedliche Charaktere wie Woody Guthrie, Pete Seeger und Cassandra Wilson haben es gecovert. Nur Jonny Cash mochte Red River Valley nicht und bat – „Don’t Play Red River Valley!“ – doch bitte Abstand vom Zitat zu nehmen. Natürlich hat er die Instrumentalfassung von John Scofield nicht kennen können.

 

Der US-Gitarrist spielt sich mit Band (Steve Swallow, Bass, George Clayton, Tasteninstrumente, Bill Stewart, Schlagzeug) im Stuttgarter Theaterhaus warm, bevor das Album – Coen-Brüder aufgepasst! – „Country For Old Men“ erscheint: eine nur vordergründig nach Schnapsidee anmutende Aneignung von in den USA und nicht nur da allseits beliebten Country-Songs.

Das geht von Merle Haggard, Hank Williams („I‘m So Lonesome, I Could Cry“), über Patti Page und Dolly Parton zu Shania Twain. Scofield, von jeher ein unglaubliches Chamäleon, demonstriert erneut seinen Hang zu querständigem Material. Oder anders: Er zeigt, wie früher schon mal bei Zugaben, wo er nicht vor der Interpretation von „Satisfaction“ oder „House Of The Rising Sun“ zurückschreckte, dass in jedem Gassenhauer eben auch Genie steckt.

Scofields zeichnet simple Raffinesse mit inniger Bewunderung nach.

„Red River Valley“ also hebt exemplarisch nach atemlosem Erstdurchlauf in eine Art harmonisches Paralleluniversum ab, in dem die Songstruktur noch vage richtungsbindend ist, aber auch milchstraßenweit erweiterbar: Scofield erspielt dem Lied assoziativ eine andere Dimension, egal ob er die Rhythmen variiert oder ein Melodiedetail herauspoliert, das er dann einer Dekonstruktion unterzieht.

Immer sehr liebevoll und respektvoll und bezeichnenderweise am schönsten, als er die simple melodische Raffinesse von Shania Twains „You’re Still The One“ mit inniger Bewunderung nachzeichnet: seit den Tagen mit Miles Davis kann Scofield die einfachsten Dinge mit Bedeutung und Intensität aufladen. „Bartender’s Blues“, frei nach James Taylor, bekommt so mehr als einen doppelten Kneipenboden unter die Füße. Die Theke, vielmehr, fliegt, und die Erde sieht sie nicht wieder.

Es ist dies, Stück für Stück, ein Abend der Erinnerungsarbeit an das Gute, Einfache, Wahre, und da offenkundig Manches noch in der Erprobungsphase ist, ergibt sich auch so eine Art Werkstattbesuch: Man wäre gespannt zu hören, wie dieselben Songs, die am Freitag auf CD erscheinen (mit Larry Golding an den Keyboards) sich ausnehmen, wenn die USA-Tournee im Oktober in Cincinatti zu Ende geht.

Maximilian Merkle hat dem Jazzfestival Esslingen einen prägenden Stempel aufgedrückt.

Scofields entspannter, auf anregende Art und Weise unfertiger Auftritt hat das Esslinger Jazzfestival beendet, dem Maximilian Merkle als Organisator zum zweiten Mal einen wirklich prägenden Stempel aufdrücken konnte: Anders als bei den Jazz Open gab es programmtische Verbindungslinien zwischen den Auftritten und Profilierungsmöglichkeiten für den Nachwuchs. Neben richtiggehenden Coups (wie der Verpflichtung des Londoner Multiinstrumentalisten Jacob Collier) standen Auftritte von ganz anderer, ebenfalls großer Güte. Berstend vor intellektueller Vitalität (und sehr, sehr lässig dabei) zeigte sich das Avishai Cohen Quartet um den israelischen Trompeter, während das Pablo Held Trio und das Jochen Rückert Quartet mit zwei höchst innovativen Saxofonisten des zeitgenössischen Jazz in den Dialog treten konnten: Chris Potter und Mark Turner.

Solche Kombinationen lassen Scofields CD-Titel „Country For Old Men“ angenehm ironisch wirken, und er persönlich ist ja auch der lebende Gegenbeweis, dass Alter nicht vor Neugier schützen muss. Mit dem Pablo Held Trio ist er bereits aufgetreten und sein aktueller Klavier- und Hammondspieler bringt es gerade mal auf 32 Lebensjahre. Maximilian Merkle hat in Esslingen solchen Musikern Platz und Aufmerksamkeit verschafft. Das bleibt. http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.jazz-open-nils-petter-molvaer-im-bix-diese-trompete-spielt-nicht-mit-gefuehlen.8156fede-f75f-40e3-8ba2-347db0cc8582.html http://www.stuttgarter-zeitung.de/inhalt.jazz-trio-netzer-und-fanta-vier-klangtueftler-andy-nicht-nur-zuhoeren.df7f05ad-b27f-47c4-94ea-dd5990e749d2.html