Die Geschichte von dem Raben Karl und den Menschen, die ihn gefüttert haben, erzählt vom Gefühl der Entheimatung. Warum gibt es kein Ritual, um Abschied vom Viertel zu nehmen, fragt StZ-Autorin Hilke Lorenz.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Seinen Urururgroßvater haben die Menschen, die ihn gefüttert haben, Karl genannt. Man ahnt es nicht unbedingt. Karl war ein Rabe. Ein schwarzer Krähenvogel, der Vertrauen zu der Familie fasste, die ihm in ihrem Garten immer ein Tellerchen mit Futter hinstellte. Von den obersten Zweigen des hohen Nussbaums schaute Karl herunter, holte sich sein Leberwurstbrot und verschwand wieder. Ein eingeübtes Ritual.

 

Es war eine Treue, die sich über mehrere Rabengenerationen erstreckte. Die Kinder der Rabenkinder wussten, dass sie dort unten verlässlich Futter finden würden. Und die heranwachsenden Menschenkinder freute es, dass die Vögel zu ihnen Vertrauen fassten. Es war nur ein kleines Glück, das die große Welt nicht aus den Angel hob. Der Krähe füllte es vielleicht nur verlässlich den Magen und nahm ihr die Sorge, für ihre Brut keine Nahrung zu finden. Aber zumindest den Menschen wärmte das kleine Glück das Herz.

Der Rabe Karl und seine Menschen

Hier muss die Geschichte leider abrupt enden. Denn Stuttgart boomt. Studien zur Bevölkerungsentwicklung sagen, dass die Stadt im Jahr 2030 die 650 000-Einwohner-Marke knacken wird. 2000 neue Wohnung will die Stadt jedes Jahr schaffen. Die Menschen, die aktuell in Stuttgart wohnen, werden nicht mehr die sein, die in elf Jahren noch in ihr wohnen. Manche ziehen weg, andere kommen. Das Leben ist Wechsel. Was das mit Karl zu tun hat?

Seit vorletzter Woche haben Karls Urururgroßenkel keine Heimat – besser: keine Menschen – mehr. Die mussten fortziehen. Die Raben haben auch keinen Baum mehr, auf dem sie sich niederlassen könnten. Er wurde gefällt. Die menschenleeren Häuser stehen zwar noch. Ihr Abriss ist jedoch nah. Denn die Stuttgarter Wohnungs- und Städtebaugesellschaft baut. Auch in Zuffenhausen in der Keltersiedlung. Es ist eines von vielen Projekten, mit denen neuer Wohnraum geschaffen werden soll. Genau das also, was gesellschaftlich zu Recht gefordert wird. Aber das Beispiel steht auch dafür, dass menschliche Gemütszustände in keine Statistik eingepflegt werden. Der Verstand sagt: Fortentwicklung heißt eben, Altes zurückzulassen, Neues in Angriff zu nehmen.

Wenn das Herz nicht vernünftig ist

Jede Stadt besteht aus den Schichten ihrer Vergangenheit. Mit dieser Logik kann man dem Raben freilich nicht kommen. Vor zwei Wochen saß er auf dem Dachfirst des ehemaligen Hauses seiner Fütterungsfamilie – und rabähte sich heimatlos geworden die Stimme aus dem Hals. Unten standen Menschen, die schweigend zuschauten, wie sich ein Großhäcksler dröhnend die meterhohen Bäume des Viertels einverleibt. Fortschritt ist eine sehr brachiale Angelegenheit, wenn er dann ganz praktisch geschieht. Das Unwort Entheimatung beschreibt dieses Gefühl. Die Umstehenden waren traurig. Sie dachten vielleicht an ihre eigene Kindheit unter diesen Bäumen, den Tratsch über den Zaun, an Familie Specht und Karl. In diesem Moment kann ihnen keiner mit dem rationalen Hinweis auf die Notwendigkeit vom Bau neuen Wohnraums kommen.

Warum gibt es eigentlich keine Formen des Abschieds vom Wohnviertel, die diese Traurigkeit respektieren und nicht einfach als Querulantentum abwerten? Die Frage ist durchaus ernst gemeint. Denn alles ist gut, was das Gefühl milder, mal wieder abgehängt zu werden. Kirchen zum Beispiel werden mit einem Ritual entweiht, bevor sie einer neuen Bestimmung zugeführt werden. Warum nicht auch Wohnviertel?