Die Exzesse einer immer enthemmter auftretenden Spaßgesellschaft nehmen uns allen unsere Freiheit, meint die StZ-Titelautorin Hilke Lorenz.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Der Begriff No-Go-Areas, also Gegenden, in die sich niemand mehr zu gehen traut, war lange einer der politischen Diskussion. Er bezeichnet Viertel in der Stadt oder ganze Landstriche auf der Deutschlandkarte, von denen man sich als auffällig anders Aussehender besser fernhalten sollte, will man nicht Opfer gewalttätiger und oft ideologisch motivierter Übergriffe werden. Die Ordnungskräfte hatten und haben in diesen Gegenden kapituliert. Überflüssig zu sagen, dass es nach übereinstimmender Meinung aller solche Gegenden weder auf der Deutschlandkarte noch auf den Stadtplänen, also weder groß- noch kleinräumig geben darf. So viel zur grauen Theorie.

 

Die war und ist ja aber noch nie die Blaupause für die Wirklichkeit gewesen. Dort, wo die Welt nicht in großen Planquadraten gedacht und gelebt wird, sieht vieles schon lange anders aus. Es scheint, als sei es an der Zeit, den Begriff der No-Go-Areas – wenn auch in vielleicht abgeschwächter Form – auszuweiten.

Respekt ist eine durchaus coole und trendige Tugend

Denn die in den Zwischenräumen unserer Städte voranschreitende Respektlosigkeit anderen gegenüber wirkt mittlerweile manchmal nicht minder bedrohlich. Dort geht es nicht um Hautfarben und Überzeugungen, die aufeinandertreffen und aneinandergeraten. Schleichend ist dort das Empfinden dafür geschwunden, was man einander zumuten kann und was nicht. Das mag an einer anonymen Innenstadtarchitektur liegen, die viele Städte zu Orten ohne Gesicht hat werden lassen. Und das mag altmodisch klingen. Aber wer es noch nicht gemerkt haben sollte: Respekt ist eine durchaus coole und trendige Tugend und hat nichts mit einer überkommenen Butzenscheibenromantik zu tun. Sie ist der Kitt, der unser Miteinander bestimmen sollte. Respekt ist das Gegenprogramm zu einer immer enthemmter agierenden Ego-Spaßgesellschaft. Es ist an der Zeit, das zum Thema zu machen und nicht länger wegzusehen und als Ausdruck von guter Laune und Frohsinn zu verharmlosen.

Auf Verwahrlosung folgt Gewalt

Wer die aktuellen Bilder aus Köln sieht, wo Anwohner auf die Straße gehen, weil sie es leid sind, nach Massenveranstaltaltungen die Straßen einer Generalreinigung von Müll und anderen menschlichen Ausscheidungen unterziehen zu müssen, bekommt eine Ahnung, um was es geht. Auf die äußere Verwahrlosung, deren Folgen sich beheben lassen, folgt die innere. Broken-Window-Theorie nennen das die Soziologen. Das Chaos speist sich aus sich selbst – nach dem Motto: Jetzt kommt es auch nicht mehr darauf an, was ich tue. Die Schlägerei zwischen alkoholisierten Fasnetsbesuchern, der Polizei und sich einer mit den Schlägern solidarisierenden Menge in Ludwigsburg beispielsweise zeigt, wohin die Verharmlosung der Entwicklung führen kann.

Die offene Gesellschaft verteidigen

Denn nicht nur die Anwohner von nicht bestellten (Groß-)Veranstaltungen sind die Leidtragenden. Mittlerweile fragt sich doch wohl jeder, der eine größere Veranstaltung besuchen will: Worauf lasse ich mich da ein? Wer zielt auf Silvesterfeiern mit Raketen in die Menschenmenge? Wer dreht durch auf Fußballmeilen oder bei Fasnets-Faschings-Karnevalsumzügen? Die Veranstaltungen sind beliebig austauschbar, sie sind nur die Arena, um Enthemmung zu zelebrieren. Die Furcht vor den großen Gefahren hat offenbar das Bewusstsein für die Entwicklung vor der eigenen Haustür, für die Exzesse einer übersteigerten Eventkultur aus dem Blick geraten lassen. Dabei sind wir davon schon längst alle betroffen. Bereits in dem Moment, in dem wir uns die Frage stellen, ob wir draußen auf der Straße in der feiernden Menge noch sicher sind, haben wir verloren. Damit geben wir die Idee auf, dass die Stadt allen gehört. Dort darf nicht das Recht des Stärkeren gelten. Darauf müssen wir uns verständigen. Auch hier müssen wir die offene Gesellschaft verteidigen.