Es passierte schleichend: Ihr damaliger Mann bestellte in ihrem Namen immer neue Sachen im Internet. Nach der Trennung stand Doris B. aus Karlsruhe allein da – und mit knapp 40 000 Euro bei verschiedenen Gläubigern in der Kreide. Ihre Rettung war die Schuldnerberatung der Diakonie Baden: Ihr wurde eine Betreuerin an die Seite gestellt, sie meldete Privatinsolvenz an, sie verpflichtete sich, keine neuen Schulden zu machen und jeden zusätzlichen Cent zu melden. Seitdem geht es wieder aufwärts in ihrem Leben.
„Wir bekommen immer mehr Menschen, die in eine ernsthafte finanzielle Not geraten“, sagt Mike Ullmann, Referent Wohnungsnotfallhilfe und Schuldnerberatungsstellen bei der Diakonie Baden. Auch die Arbeitsgemeinschaft der Schuldnerberatungsstellen der Verbände (AG SBV) berichtet von einer stark gestiegenen Nachfrage bei Beratungen. Denn um die finanzielle Situation vieler Familien ist es nicht zum Besten bestellt: Die letzten Krisen wie Corona, Krieg, Inflation und auch die völlig verfehlte Wohnungspolitik würden zunehmend in eine „Abwärtsspirale der Verarmung“ führen, sagt Ullmann.
Verarmung erfasst auch die Mittelschicht
„Die unteren sozialen Schichten in Deutschland hat es bereits erwischt. Nun ist zunehmend der Mittelstand betroffen.“ Hinzu komme eine bestimmte Haltung, beklagt Ullmann, die sich seit Jahren in den Köpfen der Menschen manifestiere, befördert durch Werbung und Bezahlsysteme im Internet wie Klarna oder Paypal. „Da redet keiner mehr von kaufen, sondern es heißt: Hol es dir und bezahle später.“
Dementsprechend ist zuletzt auch die Zahl der Privatinsolvenzen rapide angestiegen: Im vergangenen Jahr wurden in Deutschland nach dem Schuldenbarometer des Informationsdienstes CRIF 99 991 Privatinsolvenzen verzeichnet, was einem Anstieg von 6,6 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. „Das Jahr 2024 war für die deutsche Wirtschaft und für die Verbraucher von Herausforderungen geprägt. Vor allem die stark gestiegenen Energiepreise und höhere Lebensmittelpreise haben in der Summe zu höheren Lebenshaltungskosten geführt“, erklärt CRIF-Geschäftsführer Frank Schlein.
Die meisten Privatinsolvenzen in Bremen
Die durchschnittliche Zahl der Privatinsolvenzen je 100 000 Einwohner lag im vergangenen Jahr bei 119. Baden-Württemberg steht hier mit einem Durchschnittswert von 92 noch relativ gut da.
Prekär ist die Situation vor allem in den nördlichen Bundesländern: Bremen lag mit 210 Insolvenzfällen je 100 000 Einwohner an der Spitze, gefolgt von Hamburg mit 179 und Niedersachsen mit 159 sowie Schleswig-Holstein (150) und Mecklenburg-Vorpommern (136). Am wenigsten Privatinsolvenzen verzeichnete Bayern (79 Fälle je 100 000 Einwohner).
Die finanzielle Situation vieler Privatpersonen in Deutschland bleibe durch die stetig steigenden Kosten angespannt, sagt Schlein. In der Folge hätten die Menschen in Deutschland weniger Geld in der Tasche, um ihren Verpflichtungen wie Kreditzahlungen, Mieten oder Finanzierungen nachzukommen. Auf Dauer kann weniger verfügbares Einkommen erst in die Überschuldung und dann möglicherweise in eine Privatinsolvenz führen. „Aufgrund der anhaltenden Kostensteigerungen ist in diesem Jahr mit über 100 000 Privatinsolvenzen in Deutschland zu rechnen. Insbesondere Personen, die bereits zuvor am Existenzminimum lebten, sind von den Auswirkungen betroffen“, warnt Schlein. Für finanz- und einkommensschwache Haushalte werde sich die finanzielle Situation voraussichtlich weiter verschärfen.
Privatinsolvenzen von alten Menschen nehmen deutlich zu
Dass es eher schlimmer als besser werden wird, zeigen auch die Zahlen der Diakonie: In Stuttgart gelten rund 22 000 Menschen als überschuldet. 24 Prozent aller Haushalte in Baden-Württemberg und damit mehr als 2,6 Millionen Bürger gelten als armutsgefährdet. „Das ist ein Viertel aller Haushalte in einem so reichen Bundesland“, betont Diakonie-Experte Ullmann. Etwa eine halbe Million davon seien Menschen unter 18 Jahren. Schon allein angesichts solcher Zahlen befürchtet Ullmann deutlich mehr Probleme mit Überschuldung. Denn ab der Volljährigkeit können junge Menschen Kredite selbst beantragen und Verträge unterzeichnen.
Überproportional stark ist die Zahl der Privatinsolvenzen dem CRIF-Schuldenbarometer zufolge aber bei Senioren gestiegen: 15 574 Insolvenzanmeldungen betrafen im vergangenen Jahr Personen, die 61 Jahre und älter sind. Im Vergleich zum Vorjahr ist dies ein Anstieg um 10,1 Prozent und damit der stärkste Anstieg im Vergleich zu allen anderen Altersgruppen. „Immer mehr Senioren sind von Altersarmut betroffen“, sagt CRIF-Geschäftsführer Schlein. „Bei vielen Betroffenen reichen Einkommen oder Rente nicht mehr aus – in der Folge müssen sie eine Privatinsolvenz anmelden. Die weiterhin hohen Kosten und steigende Mieten werden die Situation verschärfen.“
Eine Privatinsolvenz kann den Betroffenen den Weg aus der Schuldenfalle ebnen. Juristisch korrekt heißt der Vorgang Verbraucherinsolvenz, ist aber besser bekannt als Privatinsolvenz. Die Insolvenzordnung bietet überschuldeten Verbrauchern dabei die Möglichkeit, sich in der Regel innerhalb von drei Jahren zuzüglich der außergerichtlichen Vorbereitungszeit von ihrem Schuldenberg zu befreien – selbst dann, wenn während der gesamten Verfahrenslaufzeit kein pfändbares Einkommen oder Vermögen erzielt werden kann. Durch die Regelung der Kostenstundung können so auch völlig Mittellose an dem Verfahren teilnehmen und eine Entschuldung erreichen.
Privatinsolvenz: Engpass bei den Beratungsterminen
Nach Angaben des Bundesverbands der Verbraucherzentralen kann man als Betroffener beim zuständigen Insolvenzgericht einen Antrag auf Eröffnung des Verbraucherinsolvenzverfahrens stellen, verbunden mit dem Antrag auf Erteilung der sogenannten Restschuldbefreiung. Vorab aber muss man versuchen, sich mit den Gläubigern über die Schuldenrückführung außergerichtlich zu einigen. An diesem Einigungsversuch muss eine Schuldnerberatungsstelle mitwirken – in jedem Fall muss eine persönliche Beratung mit Prüfung der Einkommens- und Vermögensverhältnisse stattgefunden haben. Dies ist aktuell die Engstelle: Auf Termine für weiterführenden Beratungen müssen Betroffene derzeit laut Diakonie-Angaben rund zehn Monate warten.
Gelingt die außergerichtliche Einigung mit den Gläubigern nicht, werden die Schulden in einem Insolvenzverfahren vom Gericht förmlich festgestellt. Eventuell noch vorhandene pfändbare Vermögenswerte werden verwertet und der Erlös an die Gläubiger verteilt. Das ist durchaus schmerzhaft: Wohneigentum etwa wird versteigert, sein Auto darf man nur behalten, wenn man selbst oder ein Familienmitglied es unbedingt braucht, um damit zur Arbeit zu kommen oder wenn man schwerbehindert oder schwer krank ist und deshalb darauf angewiesen ist. Gleiches gilt, wenn man das Fahrzeug für ein schwerbehindertes oder schwer krankes Familienmitglied benötigt. Denn das zum Leben absolut Notwendige darf einem im Zuge des Verbraucherinsolvenzverfahrens nicht weggenommen werden.
Man darf nur behalten, was man für die Existenz unbedingt braucht
Danach schließt sich die sogenannte Wohlverhaltensphase an, die zusammen mit dem Insolvenzverfahren regelmäßig drei Jahre dauert. Während dieser Zeit darf man keine neuen Schulden machen – und muss von seinem Einkommen alles, was über das Existenzminimum hinausgeht, an einen Treuhänder abtreten. Dieser verteilt die eingezogenen Beträge dann an die Gläubiger. Reicht das Geld nicht aus, um die gesamten Verbindlichkeiten zu tilgen, wird einem am Ende der Rest erlassen – nach Ablauf des Verbraucherinsolvenzverfahrens ist man also in jedem Fall schuldenfrei.
Auch Doris B. hat nach Abschluss ihres Insolvenzverfahrens heute keine Schulden mehr, nächstes Jahr wird ihr Eintrag bei der Schufa gelöscht. Dann hat sie ihr altes Leben zurück – und ist wieder handlungsfähig.