Ein Sohn wird vermisst, die Polizei entdeckt ein Skelett. Erst nach 15 Jahren finden die Familie und die Ermittler zusammen. Protokoll einer doppelten Suche.

Region: Verena Mayer (ena)

Marbach am Neckar - Im Hochsommer 1999 verschwindet Patrick P. spurlos. Er verlässt das Elternhaus in Marbach am Neckar, um ins Freibad zu gehen. Niemand weiß, ob er wirklich dort war. Patrick kehrt einfach nicht mehr heim. Seine Familie sucht ihn. Tagelang. Wochenlang. Monatelang. Auch an Orten, von denen sie nicht einmal wusste, dass es sie gibt. Doch ihr Junge bleibt verschwunden. Jahrelang.

 

Im Spätsommer 1999 findet die Polizei ein Skelett. Es liegt in einer Mulde im Pfullinger Stadtwald, rund 80 Kilometer von Marbach am Neckar entfernt. Niemand weiß, wer der Tote ist. Die wenigen Spuren führen zu nichts. Die Ermittler der Kripo versuchen, die Identität zu klären. Tagelang. Wochenlang. Monatelang. Sie bitten sogar das FBI in Amerika um Hilfe. Doch das Skelett bleibt rätselhaft. Jahrelang.

Im Herbst 2014 begegnen sich die Familie P. und die Ermittler. Es wird ein aufschlussreiches Treffen: Es wird klar, dass die Knochen, die seit 15 Jahren in der Asservatenkammer der Polizei liegen, von Patrick stammen. Michael Gerg sagt: „Das ist ein sehr außergewöhnlicher Fall.“ Gerg leitet die Ermittlungsgruppe, die seit der Identifizierung des Skeletts auf Hochtouren arbeitet. Nachdem die Polizei dieses Rätsel gelöst hat, steht sie vor einer neuen Frage: Wer hat vor anderthalb Jahrzehnten Patrick P. aus Marbach getötet?

Keine heiße Spur

Der Schädel, den Waldarbeiter am 15. September 1999 im Naherholungsgebiet Schönberg bei Pfullingen entdecken, ist eingeschlagen. An den Knochen haften Reste von grünem Lack. Vielleicht stammen sie von einer Axt oder einem Spaten. Sicher ist für die Kriminalisten nur, dass der unbekannte Mensch gewaltsam zu Tode kam. Doch wo ist der restliche Körper? Die Bereitschaftspolizei rückt aus. Hundestaffeln folgen, sogar Spürhunde des Roten Kreuzes werden zur Verstärkung angefordert. Zu Hunderten durchstreifen die Suchenden den Wald. Sie stochern im steinigen Boden und tragen die Erde des unwegsamen Geländes ab. Doch nichts von dem, was die Polizisten dabei aufstöbern, bringt sie weiter. Erst nach fünf Tagen, als sie die Suchaktion fast schon aufgeben wollen, finden die Polizisten doch noch den skelettierten Leib. Er liegt etwa 400 Meter vom Fundort des Schädels entfernt, bedeckt von Erde und Laub. Vermutlich hat ein Tier den Kopf ausgegraben und dorthin geschleppt.

Die Polizei kann auch ein Stückchen Stoff sicherstellen, wahrscheinlich den Rest eines T-Shirts oder eines Unterhemds. Mehr findet sie nicht. Keine Schuhe, keine Papiere. Abdrücke von den Fingern sind nicht mehr möglich. Narben, die die Person vielleicht hatte, nicht mehr erkennbar. Tätowierungen ebenso wenig. Es gibt nur Knochen und Zähne. Sie geben preis: Bei dem Skelett handelt es sich um die Überreste eines Mannes. Er war zwischen 15 und 21 Jahre alt, etwa einen Meter siebzig groß, er wog 75 Kilo oder ein bisschen mehr. Unentdeckt im Wald lag er maximal 18 Monate.

Bis die DNA des Toten entschlüsselt ist, vergehen fast zwei Jahre. Im Wald unter dem Laub hat sich viel Huminsäure im Körper gesammelt und das Genmaterial heftig angegriffen. Doch als das Ergebnis dann endlich vorliegt, bringt es die Soko Schönberg auch nicht weiter. In der Datenbank mit den vermissten Personen gibt es keinen Treffer.

Die Suche

In Marbach wird Familie P. derweil schier wahnsinnig vor Angst und Verzweiflung. Patrick ist zwar schon 18, und es ist nicht das erste Mal, dass er ein paar Tage außer Haus verbringt, doch dass er sich gar nicht daheim meldet, das passt nicht zu Patrick. Die Mutter ahnt, dass etwas passiert sein muss. Die ganze Familie beginnt mit der Suche. „Wisst ihr, wo Patrick sein könnte?“, fragt sie seine Freunde aus der Schulzeit. „Wann haben Sie Patrick zuletzt gesehen?“, forscht sie bei Kollegen nach. Sie bastelt Flugblätter und verteilt sie an Hunderte Passanten. Vielleicht hilft das ja weiter. Die Familie streunt auch durch die Schwulenszene am Stuttgarter Planetarium. Keiner der Angehörigen kann sich vorstellen, dass Patrick homosexuell ist, aber die Mutter weiß, dass ihr Sohn ältere Bekannte hat, die sich in diesem Milieu bewegen. Tatsächlich bekommt die Familie bei ihrer Fahndungsaktion den Tipp, in einem Club in der Innenstadt nachzuschauen. Und tatsächlich entdecken die Mutter und eine ihrer Töchter dort Patrick – zumindest glauben die Frauen das. Er steht hinter einem Fenster und schaut auf die Straße. Mutter und Tochter rufen ihm seinen Kosenamen zu: „Paddy!“ Als sie im Gebäude nachschauen, fehlt von Patrick jedoch jede Spur.

Die Mutter bittet die Polizei um Hilfe. Ein Beamter in Stuttgart, wo Patrick angeblich zuletzt gesehen wurde, unterhält sich lange mit Frau P. und erklärt ihr schließlich, dass sie zur Polizei nach Marbach muss. Für Patrick sind die Kollegen am Wohnort zuständig. Doch bei der Marbacher Polizei meldet sich die Mutter nie.

Die Soko Schönberg muss derweil einen Mord aufklären, ohne zu wissen, wer der Ermordete ist. Die Ermittler können keinen Täter suchen, bevor sie nicht mehr über das Opfer wissen. Die Frage, die sie all die Jahre leitet, lautet: Wo könnte jemand verschwunden sein? Die Polizisten überprüfen alle Zivildienstleistenden und Wehrpflichtigen aus dem Raum Reutlingen. Vielleicht ist unter den jungen Männern einer gewesen, auf den die Daten des Knochenmanns passen. Obdachlose werden sozusagen auf Vollzähligkeit kontrolliert, das Drücker- und das Rotlichtmilieu wird durchleuchtet. Ist dort vielleicht jemand eines Tages nicht mehr aufgetaucht? Jede Polizeidienststelle in der ganzen Republik kennt die Daten des unbekannten Toten. Er könnte von überall stammen.

Hilfe vom FBI, dem ZDF und RTL II

Das FBI in Amerika rekonstruiert anhand des Schädels ein Phantombild. Es ist im ZDF bei „Aktenzeichen XY“ zu sehen und auf RTL II in „Ungeklärte Morde“. Sogar im Kosovo wird es veröffentlicht. Ein Isotopengutachten hat ergeben, dass der Tote vom Balkan stammen könnte. Vielleicht ist er ja während des Bürgerkrieges geflohen. „Wir haben wirklich jede Möglichkeit in Betracht gezogen“, sagt Michael Gerg.

Nach Patricks Verschwinden zerbricht seine Familie in Marbach am Neckar. Die Eltern trennen sich, die Kinder verlieren ihr Zuhause. Die Ehe kriselte schon lange. Schon seit Herr P. arbeitslos geworden war und Frau P. den Lebensunterhalt alleine verdienen musste, geriet der Alltag in dem auf Pump gekauften Einfamilienhaus immer mehr aus den Fugen.

Patrick, das zweite der fünf Kinder, sagte oft: „Wenn ich 18 bin, gehe ich nach Amerika und baue mir dort eine Zukunft auf.“ Als Schüler wollte er Flugzeugmechaniker werden. Nach einem Praktikum am Flughafen verwarf er diesen Berufswunsch jedoch. Zu viel Schmutz. Stattdessen suchte er sich Jobs in Bistros und Boutiquen und hielt sich so finanziell über Wasser. „Vielleicht ist er ja wirklich nach Amerika?“, machen sich die Angehörigen nun selbst Mut und gehen in die Öffentlichkeit. „Wir wollen einfach nur ein Lebenszeichen von dir“, sagen zwei seiner Schwestern im Juni 2013 in eine Fernsehkamera. „Wir lieben dich.“ Die Sendung heißt „Bitte melde dich“ und läuft auf Sat 1. Patricks jüngere Geschwister haben die Redaktion um Hilfe gebeten. Ihre Hoffnung: vielleicht sieht Patrick den Beitrag. Vielleicht kapiert er dann, wie sehr seine Familie leidet.

Die Gewissheit

Am Ende bringt die Sendung zwar kein Lebenszeichen von Patrick, aber sie bringt die Ermittler der Soko Schönberg und die Familie P. zusammen. Denn eine Voraussetzung für den Fernsehbeitrag ist ein Ansprechpartner bei der Polizei, der die potenziellen Hinweise der Zuschauer entgegennimmt. Doch als sich die Schwestern bei der Vermisstenstelle in Stuttgart erkundigen, stellen sie fest, dass die Beamten nicht das Geringste von ihrem verschwundenen Bruder wissen. Es gibt keine Akte Patrick P. – weil es keine Vermisstenanzeige gibt. Wie sich herausstellt, hatten alle geglaubt, die Mutter hätte das längst erledigt. Sie war damals ja zur Polizei gegangen. Dass das Stuttgarter Revier die falsche Adresse war, wussten die Kinder nicht. Und warum sie danach nicht die zuständige Stelle in ihrem Wohnort aufsuchte, kann Patricks Mutter heute selbst nicht so genau sagen. Wahrscheinlich habe sie sich nicht vorstellen können, was die Marbacher Beamten anders machen würden als die Stuttgarter.

Also sind es die beiden jüngeren Schwestern, die Patrick offiziell vermisst melden – 14 Jahre, nachdem er verschwunden ist. Es dauert weitere 15 Monate, bis die DNA aller Angehörigen analysiert und mit der DNA des gefundenen Skeletts abgeglichen ist – und schließlich aus all der Ungewissheit der vergangenen Jahre eine Gewissheit wird: Der unbekannte Tote aus dem Pfullinger Stadtwald ist Patrick P. aus Marbach am Neckar.

Jetzt, da die Kriminalisten herausgefunden haben, wer der Tote ist, können sie endlich mit der Suche nach dem Täter beginnen. Sie befragen die Familienmitglieder, und sie spüren Freunde und Arbeitskollegen von damals auf. Die Ermittler lernen die Familie und ihre Geschichte kennen. Das Bild von Patrick P. ist bis jetzt noch verschwommen. Der Junge muss umgänglich gewesen sein, sympathisch und relativ zurückhaltend. Er hat Wert auf gute Kleidung und ein gepflegtes Äußeres gelegt. Er hatte intensive Kontakte ins Stuttgarter Homosexuellenmilieu. Aber den Kollegen von der Dienststelle Prostitution war Patrick P. bei Kontrollen in den einschlägigen Lokalen nicht aufgefallen. Auch ob er schwul war, vermag niemand zu sagen. Vielleicht hat sich Patrick P. als Stricher verdingt. Vielleicht ist er dabei eines Tages an den Falschen geraten. Vielleicht war alles ganz anders.

Ein Platz zum Trauern

„Wir geben nicht auf“, sagt Michael Gerg. Der leitende Ermittler ist überzeugt davon, dass der Mord an Patrick P. im Umfeld des Täters nicht unbemerkt geblieben ist. Vielleicht regt sich bei den Mitwissern das schlechte Gewissen? Oder gab es gar einen Komplizen? Vielleicht findet sich doch noch ein Zeuge, dessen Erinnerung zu einer heißen Spur wird. Die Rückmeldungen, die seit einem Anfang November in mehreren Zeitungen veröffentlichten Aufruf eingingen, waren spärlich und führten nicht weiter. Doch Michael Gerg bleibt optimistisch. Er sagt: „Wir brauchen etwas Glück und Unterstützung, aber wir werden auch diesen Fall lösen.“

Die Angehörigen wollen keinen Kontakt mit Medien. Was über ihre Geschichte bekannt ist, stammt aus der anderthalb Jahre alten Sat-1-Dokumentation und aktuell von der Polizei, die auf viele Hinweise der Öffentlichkeit hofft. Die Familie P. hat die Stelle im Pfullinger Stadtwald inzwischen besichtigt, wo Patrick verscharrt worden war. Demnächst wird sie seine Überreste aus der Asservatenkammer holen und bestatten. Dann hat Patrick ein würdiges Grab. Und seine Eltern und seine Geschwister haben einen Platz zum Trauern.