Erst baut er Waffen für die Nazis und dann Raketen für die USA. Ein Porträt zum 100. Geburtstag des Physikers Wernher von Braun.

Stuttgart - Schon als Jugendlicher begeistert sich Wernher von Braun – am 23. März 1912 in Wirsitz in der Provinz Posen (heute Polen) geboren – für Astronomie. Mit 13 Jahren experimentiert er bereits mit Feuerwerksraketen. Die Romane von Jules Verne und das Buch „Die Rakete zu den Planetenräumen“ des Physikers Hermann Oberth beflügeln seine Fantasie.

 

Gefördert wird er von Walter Dornberger, der für das Heereswaffenamt (HWA) Experimente in Kummersdorf-Gut, etwa 30 Kilometer südlich von Berlin, unternimmt. Im Jahr 1934 promoviert von Braun mit einer Arbeit über „Konstruktive, theoretische und experimentelle Beiträge zu dem Problem der Flüssigkeitsrakete“. Die Dissertation wird schnell zur „geheimen Kommandosache“ erklärt und darf nicht veröffentlicht werden. Denn nach den Versailler Verträgen ist Deutschland die Entwicklung von Waffen untersagt.

Das stört die Nationalsozialisten nach der Machtübernahme Anfang 1933 herzlich wenig. In die Entwicklung von militärisch nutzbaren Trägerraketen werden 20 Millionen Reichsmark gesteckt, das Forschungszentrum mit 10 000 Mitarbeitern untersteht Hermann Görings Luftwaffe. 1938 tritt von Braun der NSDAP bei, 1940 wird er Mitglied der SS und steigt bis zum Sturmbannführer auf.

Am 3. Oktober 1942, mitten im Zweiten Weltkrieg, startet in Peenemünde das 14 Meter hohe und 13,5 Tonnen schwere sogenannte Aggregat A4, die erste Großrakete mit Flüssigtreibstoff. Die technische Neuerung besteht in einem Kreiselsystem, um die Flugbahn zu stabilisieren. Adolf Hitler ist von der Boden-Boden-Rakete begeistert und ernennt den 31-Jährigen zum Professor. Unter dem Propagandanamen V2 (V-Waffe ist die Kurzform für Vergeltungswaffe) werden Ziele in London und Antwerpen beschossen. Im Raketenhagel sterben 8000 Menschen.

Herstellung der Waffe fordert 12.000 Opfer

Nach einem britischen Fliegerangriff auf Peenemünde wird ein Großteil der Versuchsanlage in den Harz ausgelagert. Nahe Nordhausen müssen KZ-Insassen aus Dora-Mittelbau Stollen in die Berge treiben, bis zu 12 000 Zwangsarbeiter kommen zwischen 1943 und 1945 bei der Serienfertigung der V2 um. Sie war somit die einzige Waffe, deren Herstellung mehr Opfer forderte als ihr Einsatz. Dass von Braun vom Elend der Häftlinge nichts wusste, ist unwahrscheinlich, schließlich fordert er kontinuierlich neue Arbeitskräfte an. Der amerikanische Historiker Michael J. Neufeld präsentiert in seinem Buch „Die Rakete und das Reich“ zahlreiche Belege für eine „tiefe Verstrickung“ von Brauns in den Einsatz von KZ-Häftlingen. Aber gegen die sich abzeichnende Niederlage kann auch die angebliche „Wunderwaffe“ nichts mehr ausrichten.

Von Braun weiß sich rechtzeitig in Sicherheit zu bringen: Im April 1945 flüchtet er nach Süddeutschland und dient sich Anfang Mai den Amerikanern an. Seine Kenntnisse gibt der Wissenschaftler nach dem Zusammenbruch des Dritten Reichs bereitwillig weiter. „Mein Land hat zwei Weltkriege verloren, diesmal möchte ich auf der Seite der Sieger stehen“, erklärt er seine Haltung.

Obwohl US-Ermittler nach Naziverbrechern fahnden, muss sich der Raketenpionier nicht rechtfertigen. Die Amerikaner ignorieren seine SS-Vergangenheit, denn für ihre hochfliegenden Weltraumpläne im aufkommenden Kalten Krieg mit den Sowjets ist der Freiherr eine Schlüsselfigur, seine „weiße Weste“ liegt im nationalen Interesse. Mit von Braun siedeln 126 Mitarbeiter in die Neue Welt über, ebenso Pläne und Einzelteile zum Bau von rund 100 A4-Raketen. Da die US-Truppen aus Thüringen abziehen müssen – es gehört künftig zur sowjetischen Zone – verschiffen sie tonnenweise Fracht illegal in die USA. Sie bildet die Grundlage des amerikanischen Raketenprogramms.

Raketenbauer aus Peenemünde siedeln in die USA über

Im Rahmen der Operation Overcast des US-Geheimdienstes arbeiten die deutschen Raketentechniker im Forschungszentrum White Sands und in Fort Bliss, New Mexiko, wo sie ihre Versuche mit Hilfe der V2-Teile fortsetzen können. Unter dem Codenamen Paperclip werden in den kommenden 20 Jahren etwa 1000 deutsche Raketenbauer, Flugzeugingenieure und Luftfahrtmediziner eingebürgert. Auch von Braun und Dornberger finden in Huntsville (Alabama) eine neue Heimat.

Ab 1950 leitet von Braun in „Sauerkraut Hill“ die Entwicklung der Redstone-Rakete, einer atomaren Kurzstreckenwaffe der US-Army. Seine schnelle Popularität in den USA verdankt der geniale Konstrukteur seinen Büchern und vor allem ab Mitte der 50er Jahre Fernsehproduktionen wie „Man in the Moon“ und „Man in Space“ in Zusammenarbeit mit Walt Disney. Der Sputnik-Schock, als ein russischer Satellit am 4. Oktober 1957 erstmals den Orbit erreicht, treibt die amerikanischen Raketenpläne weiter voran. Bei der Eroberung des Weltraums hat jedoch zunächst die Sowjetunion die Nase vorn, sie schickt mit Juri Gagarin auch den ersten Menschen ins All.

1969 folgt der Höhepunkt in der Karriere von Brauns

Die USA reagieren und holen mit der Gründung der National Aeronautics and Space Administration (Nasa) zum Gegenschlag aus, von Braun wird Direktor des Raumfahrtzentrums Marshall Space Flight Center, seine Abteilungsleiter sind aus Peenemünde. 1961 gibt Präsident John F. Kennedy der bemannten Weltraumfahrt ein ehrgeiziges Ziel vor: bis zum Ende des Jahrzehnts sollen Amerikaner auf dem Mond landen. Unter Federführung von Brauns arbeiten insgesamt 400 000 Menschen bei Zulieferfirmen und der Nasa an Mercury-, Gemini- und Apolloraketen.

Schließlich folgt der Höhepunkt in der Karriere von Brauns: eine dreistufige Saturn-V-Rakete bringt die Astronauten Neil Armstrong und Edwin „Buzz“ Aldrin am 20. Juli 1969 auf den Erdtrabanten. Mit seiner alten Mannschaft hat von Braun die Mission erfolgreich zum Abschluss geführt. Damit gehen seine langjährigen Träume in Erfüllung, er wird als „Universalgenie“ und als „Vater der bemannten Raumfahrt“ gefeiert. Im Anschluss avanciert er zum stellvertretenden Nasa-Direktor und plant weitere Großprojekte wie Raumstationen und Marsflüge.

Finanzielle Gründe ließen die euphorische Stimmung nach der geglückten Mondlandung bald kippen. Das Nasa-Budget wurde gekürzt und nach heftigen Kontroversen verließ ein enttäuschter von Braun die Behörde. 1972 wurde er Vizepräsident von Fairchild, einem privaten Luft- und Raumfahrtkonzern. 1975 gründete er das Nationale Raumfahrtzentrum, und zum Jahresende 1976 ging er in den Ruhestand. Nur ein halbes Jahr später, am 16. Juni 1977, starb Wernher von Braun im Alter von 65 Jahren in Alexandria (Virginia).

Die steile Karriere des Wernher von Braun in Zahlen

1. Studium: Nach dem Abitur 1930 tüftelt von Braun im Verein für Raumschifffahrt in Berlin-Reinickendorf an Raketen mit Flüssigkeitsantrieb. Danach studiert er Physik an der Technischen Hochschule in Charlottenburg und macht dort bereits im Jahr 1932 seinen Abschluss.

2. Beruf: Der im Jahr 1934 promovierte von Braun macht im Heereswaffenamt (HWA) eine steile Karriere. 1937 wird er im Alter von gerade einmal 25 Jahren zum technischen Leiter der neu eingerichteten Heeresversuchsanstalt in Peenemünde auf der Ostseeinsel Usedom benannt. osk