Beim Wertewelten-Forum in Tübingen haben die Nobelpreisträger Herta Müller und Wole Soyinka über Grenzen gesprochen.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

Tübingen - Herta Müller, diese zarte Frau, diese Handwerkerin! Niemand ist so versiert im Sammeln und Aneinanderfügen der Wörter wie sie. Beim achten Wertewelten-Forum in Tübingen fragt der Literaturprofessor Jürgen Wertheimer die Nobelpreisträgerin: „Wie kommst du zu den ganzen Wörtern?“ – „Ich schneide sie aus“, antwortet die Collagenkünstlerin Herta Müller und kichert fast ein wenig.

 

Auf dem Podium ist man sich vertraut. Jürgen Wertheimer, der Grandmaster des Studium generale in Tübingen, hat die Autorin schon seit Jahrzehnten immer wieder zu Lesungen eingeladen, ihre literarischen Arbeiten wertgeschätzt. Und wenn Herta Müller dann da ist und Wertheimer sie befragt, ist der Hörsaal voll besetzt, und 18-jährige Studenten, Wissenschaftler und das ruheständlerische Tübinger Bürgertum finden kopfnickend zueinander.

Die Wörter kommen in Schubladen

Herta Müller liest ihre Gedichtcollagen von einer Projektion an der Wand ab, spricht mit diesem rollenden R die spitzen, harten Sätze. Die klingen so: „Der Tod ist eine schmale kahle Meterware.“ Jedes Wort ist einzeln aus Illustrierten ausgeschnitten, die in Deutschland so bunt sind, wie sie es niemals waren in Rumänien, dem Heimatland der Autorin.

Herta Müller sortiert die ausgeschnittenen Wörter in Schubladen („Ich habe Tausende Wörter, wenn ich sie nicht wegräume, stauben sie ein!“). Irgendwann holt sie ihre Wörter wieder heraus, baut sie wie Legosteine zusammen, zu Sätzen, ganz intuitiv. Sorgfältig muss das sein. Und eine Ordnung haben, der Platz ist begrenzt, gerade postkartengroß, die Zeilen stehen im Blocksatz.

Eigentlich möchte man diese kleinen Wortwunderwerke ihres neuesten Bandes „Vater telefoniert mit den Fliegen“ gar nicht zitieren, nicht darüber schreiben, wie es wahrscheinlich Hunderte von Germanisten in ihren Abschlussarbeiten tun und damit weiße Vorgartenzäune bauen für die Lyrik dieser Herta Müller. Doch einsperren lassen sich die Sprache dieser Autorin und auch sie selbst schon lange nicht mehr.

Wenn ein Wort zur Grenze wird

Um Grenzen ging es dieses Mal in Tübingen: Sie sind das Thema dieses Wertewelten-Forums, bei dem Forscher und Autoren aus aller Welt Ideen austauschen. Auch der nigerianische Autor und Nobelpreisträger Wole Soyinka war zum Forum eingeladen. Und wer zuvor den Eindruck hatte, mit der Globalisierung wären die Grenzen verschwunden, dem musste es doch auffallen, dass die Schwelle zur Literatur Afrikas hier hoch zu sein scheint: Wole Soyinkas Bücher sind kaum mehr auf dem deutschen Buchmarkt erhältlich. Dass die Autorin Herta Müller unter einer Grenze etwas anderes versteht als die meisten Anwesenden an diesem Eröffnungsabend in Tübingen, das weiß, wer ihre Texte und ihre Geschichte kennt. In jeder Sprache säßen doch „andere Augen in den Wörtern“ hat Müller schon 2001 in „Heimat ist das, was gesprochen wird“ beobachtet.

Akzeptieren wir am Ende also die Differenz, die Grenzen, die es aller Globalisierung zum Trotz gibt, fragte das Forum. Oder suchen wir Übergänge? Die Grenze, das ist für Herta Müller aber immer jene, die einst um ihr Land gebaut war, an der Menschen ermordet wurden. Ihre Toleranz gegenüber manchen Wörtern hat daher selbst Grenzen: ein Wort wie „Schusslinie“ würde sie nie ausschneiden. „Es kann schon sein, dass ich mit meinen Wörtern etwas zusammensetzen möchte, das zerbrochen war.“ Und an der Grenze zu den falschen Worten liegt manchmal nur das Schweigen – eine Sprache für sich.