Kisten schleppen, Kartoffeln schälen oder putzen: wer ein WG-Zimmer ergattern will, muss manche Aufgabe bewältigen. Aber auch als WG-Jury hat man es nicht leicht, den richtigen Mitbewohner auszuwählen.

Stuttgart - Sag mal, Katarina, schnarchst du eigentlich?“ Der jungen Frau klappt die Kinnlade herunter. Für ein paar Sekunden ist sie völlig irritiert, sprachlos. Dann fängt sie sich wieder. „Du kannst gern mal vorbeikommen und es testen“, antwortet sie kess. Jetzt ist es Sven Hermann, dem die Worte fehlen. Mit einer solch schlagfertigen Einladung hätte der Student nicht gerechnet. „Ich dachte ja, dass du eher so der schüchterne Typ bist“, sagt er zu der zierlichen Blondine. „Stille Wasser sind eben tief“, entgegnet sie und grinst. Das Eis ist gebrochen, Katarina Herger hat die Jury auf ihrer Seite.

 

Die Jury, das sind Carsten Arend (24), Torben Schreiber und Sven Hermann, beide 25 Jahre alt. Seit vier Jahren leben die BWL-Studenten in einer Wohngemeinschaft im Stuttgarter Westen. „Eigentlich gab es noch einen vierten Mann“, erzählt Sven. „Aber der ist mit Sack und Pack zu seiner Freundin gezogen.“ Jetzt brauchen die drei dringend einen neuen Mitbewohner. Weil sich so viele Interessenten auf ihre Anzeige im Internet gemeldet haben, haben sie sich für ein WG-Casting entschieden. „Ohne zu wissen, was da auf uns zukommt“, sagt Carsten leicht genervt.

Auswahlkriterien: Alter und Hobbys

Samstagvormittag, 11 Uhr. Es ist der dritte Castingtag in Folge. Mit müden Augen sitzen die drei Hausherren an einem großen Holztisch im Wohnzimmer. Im Hintergrund läuft leise Musik, auf dem Tisch stehen frischer Kaffee, Wasser, Saft und ein paar Kekse. Daneben liegen Stifte und Papier. Sie schreiben sich bei jedem Bewerber ein paar Stichworte auf. „Sonst weißt du am Ende des Tages überhaupt nicht mehr, wer wer ist und wer wie tickt“, sagt Torben. Anschließend wird beraten und aussortiert.

In einem Wohnungsportal im Internet haben seine Kumpels und er eine Anzeige geschaltet. „Du bist spontan, nicht spießig und kannst über dich selber lachen? Dann bist du bei uns genau richtig. Wir sind drei verrückte Kerle, die Spaß am Leben haben. Wenn es dir genauso geht, melde dich bei uns. Einzug lieber gestern als heute.“ Es folgen die Eckdaten der Wohnung. „Nach ein paar Tagen hatten wir fast 100 Bewerber“, erzählt Carsten, den die große Resonanz immer noch überrascht. Knapp 30 Bewerber haben die Studenten zum WG-Casting eingeladen. Irgendwelche Auswahlkriterien? „Vorwiegend Alter und Hobbys“, sagt Sven.

Schaulaufen im Affenhaus

Mehr als 20 Kandidaten haben die drei Studenten bereits „durchgeschleust“, wie Carsten es nennt. Ohne Erfolg. „Eine kam sogar mit ihrer Mutter. Die wollte unseren Putzplan sehen und wissen, nach welchen Kriterien wir unseren Müll trennen“, erzählt er. Eine andere habe ihren Mops mitgebracht und erklärt, dass das Tier zweimal am Tag frisch gekochtes Fleisch und Gemüse bekommt. „Das war total irre“, sagt Torben und tippt sich an die Stirn. Wie er diese WG-Casterei empfinde? „Ein bisschen wie Schaulaufen im Affenhaus.“

Dann kommt Kandidat Nummer 22, Roman Maier aus Gerlingen. Er studiert im vierten Semester an der Musikhochschule. Er will nicht mehr jeden Tag mit dem Bus nach Stuttgart pendeln und deswegen hierherziehen. Roman ist nervös, redet viel und schnell. Nach ein paar Minuten wissen Carsten und seine Freunde sogar mehr, als ihnen lieb ist. Roman Maier spielt vier Instrumente, hat eine Katzenhaarallergie, keinen Führerschein und ist Mitglied in einer Kochgruppe, die sich regelmäßig trifft. Svens Interesse ist geweckt. „Was kommt bei euch so auf den Tisch“, fragt er. Schließlich sei Kochen auch ein gemeinsames Hobby der Männer-WG. „Gemüse und Tofu“, antwortet der Bewerber. „Fisch oder Fleisch kommen nicht in die Pfanne, ich bin Vegetarier.“ Sven macht ein dickes Minus bei Roman.

Spültest und Kartoffeln schälen – nur für eine Wohnung

Weiter geht’s zur Zimmerbesichtigung. Eigentlich sei ihm der Raum ja viel zu groß und zu dunkel, sagt der Bewerber. Und überhaupt: ob er so viel zahlen könne, die monatliche Miete liegt bei strammen 475 Euro, sei auch noch gar nicht klar. Torben verdreht genervt die Augen. Plötzlich zeigt Roman auf eine Wand. „Da allerdings würde mein Klavier gut hinpassen“, sagt der Musikstudent und strahlt. Wie denn die Akustik in dem Raum sei, will er wissen. Sven ist entsetzt. Am Ende der Besichtigung setzt der Bewerber noch einen drauf. „Wenn ihr jetzt noch die Miete auf 400 Euro senkt, dann zieh ich bei euch ein.“ Die drei Studenten nicken gequält. Man werde sich melden, sagt Sven. „Wenn wir vorher einen konkreten Fragenkatalog erstellt hätten, wäre uns so etwas nicht passiert.“

Doch die drei BWL-Studenten haben ganz bewusst darauf verzichtet. Am Anfang hätten sie sich im Netz Fragebögen angeschaut und überlegt, wie sie die Bewerber testen könnten. „Aufgaben gibt es schließlich genug“, sagt Carsten. Seine Freundin habe bei einem WG-Casting beispielsweise volle Wasserkästen in den fünften Stock schleppen müssen, um ihre Fitness zu beweisen. „Rolle vorwärts, Spültests und Kartoffeln schälen – und das alles nur, um eine Wohnung zu bekommen“, zählt Carsten auf. „Das ist doch totaler Unsinn.“

Muttersöhnchen, Spießer und Langweiler

Nach 26 Bewerbern und etlichen Gesprächen ist die Stimmung in der Männer-WG auf dem Tiefpunkt. Sie hatten sich das etwas einfacher vorgestellt. „Dabei sind unsere Ansprüche doch gar nicht so hoch“, sagt Torben. „Wer hier einzieht, muss zu uns passen.“ Eben nett, entspannt und unkompliziert. Stattdessen nur Muttersöhnchen, Spießer und Langweiler. „Jammern hilft jetzt auch nichts“, mahnt Carsten. „Wir müssen jemanden finden, sonst wird es finanziell ganz schön eng.“

In der Tat, schließlich wohnt man(n) nicht gerade bescheiden. Eine Altbauwohnung im Stuttgarter Westen, knapp 130 Quadratmeter, Parkett, ein Bad mit Wanne – nicht gerade eine typische Studentenbude. Zu Fuß ist man in 20 Minuten in der Stadt, Bus und Bahn fahren quasi direkt vor der Haustüre ab. „Das ist schon Luxus“, sagt Torben. Und der kostet eben. 1900 Euro Miete warm inklusive Stellplatz und Internet zahlen die Studenten im Monat.

Entscheidung fällt ohne Salto und Zaubertricks

Mittlerweile ist es 14 Uhr. Noch drei Bewerber stehen auf der Liste. „Ich frag die Leute jetzt alles, was mir gerade so einfällt“, kündigt Sven an. Ob Lieblingstier, Klamottengröße, Vornamen der Eltern, ob liebste Käse- oder Marmeladensorte – der Student fragt direkt in Blaue. Die Lehramtsstudentin Katarina Herger erwischt er eiskalt. Ob sie lieber mit oder ohne Gummihandschuhe putze, will er wissen. Die Studentin stammelt etwas von Schärfe der Putzmittel. Eine kesse Antwort fällt ihr bei diesem Thema nicht ein. Bei einem andern schon: „Nur weil ich ein Mädchen bin, will ich keine rosafarbene Tapete“, sagt sie, als sie das freie Zimmer betreten. Sekt möge sie auch nicht. „Bei uns daheim trinkt man Bier.“ Carsten und Torben notieren dickes Plus.

Der letzte Casting-Tag ist vorbei. Carsten, Torben und Sven werten ihre Notizen aus. Vegetarier: nein. Frau mit Hund: nein. Ein 35-Jähriger Barkeeper, der nie zu Hause ist: nein. Die Entscheidung fällt auf Katarina. „Sie ist offen, lacht viel und hat Humor“, sagt Sven. „Ihre Art hat uns überzeugt.“ Und das ganz ohne Salto mortale und Zaubertricks.