Es geht um Liebe im Alter, um Scheitern, Veränderung und Flucht: Aus Bodo Kirchhoffs Novelle „Widerfahrnis“ macht der Regisseur Christof Küster im Stuttgarter Studio-Theater ein zutiefst eindringliches und humorvolles Bühnenstück.

Stuttgart - Am Anfang: eine Flasche Wein, der Mann in seinem Gehäuse. Reither hat sich zurückgezogen, sein Verlag, seine Ehe sind gescheitert. Aber da sind Schritte vor der Tür, Leonie Palm, Reithers Nachbarin, hat ihn beim Rauchen beobachtet. Nun drängt sie mit leiser, heiterer Beharrlichkeit in sein Leben. Erst nach einem Wortgeplänkel wird Reither sie ins Haus lassen – aber ist die Schwelle erst überschritten, hat die Geschichte auch schon begonnen: Reither und Palm sind plötzlich unterwegs nach Italien, lieben sich, verlieren sich: ein Wiederaufflammen von Träumen im illusionslosen Alter.

 

Christof Küster, Intendant des Stuttgarter Studio-Theaters, hat seine eigene Dramenfassung von Bodo Kirchhoffs „Widerfahrnis“ für seine Hinterhofbühne inszeniert, Anne Brügel stattete das Stück aus. Dietmar Kwoka spielt Reither, Ursula Berlinghof Leonie Palm – und Mariam Jincharadze gibt die Erzählerin, die häufig kommentierend ins Spiel eintritt, sie ist das wortlose Flüchtlingsmädchen, dem das Paar auf seiner Reise begegnen wird, und verwandelt sich unterwegs in eine Reihe weiterer wundersamer Figuren.

Gefühle im Gleichgewicht

Hinter einer transparenten Wand, auf der Lichtbilder spielen, verkörpert Mariam Jincharadze auch die Gespenster einer doppelten Vergangenheit: Julius Reither und Leonie Palm leben beide mit einem Verlust. Christine, Reithers Frau, war schwanger im dritten Monat und verließ ihn, weil er ihr eine Abtreibung nicht ausreden wollte. „Es passte weder in ihr noch in mein Leben“, sagt er und meint mit „Es“ das Kind. Leonie Palm dagegen verlor die Tochter. Sie hat ein Buch geschrieben, das davon handelt: „Von einer jungen Frau, die sich bei Eiseskälte betrunken an einen Waldsee legt, wohl aus Liebeskummer, und erfriert.“ Palm betrieb ein Hutgeschäft, das sie nicht halten konnte: „Es gab für Hüte immer weniger Gesichter“ – Reither indes war Buchhändler, Kleinverleger, schwang den Korrekturstift über jedem schmückenden Beiwort und wollte keine Reiseführer verkaufen. „Solche Geschichten“, sagt er über Palms Buch, „gingen bei mir mit drei Zeilen zurück – passt leider nicht ins Programm, aber versuchen Sie es woanders.“

Dietmar Kwoka spielt die Rolle dieses Mannes, der sich an seinen Sarkasmus klammert und sich doch insgeheim mehr wünscht, genau so vorzüglich wie Ursula Berlinghof jene Frau, die trotz allem noch voller Lebensfreude und Lust am Aufbruch ist. Leonie Palm wird für Reither zum Katalysator und leitet eine Veränderung ein, die bei ihm erst langsam, zögerlich beginnt. Beiden gelingen schöne Szenen, in denen sie sich umkreisen und für Momente zu einem fast unwahrscheinlichen Gleichgewicht ihrer Gefühle, Geschichten und Temperamente finden. Rustikale Holzelemente, die gelegentlich umgestellt werden, bilden die Bühne, dazu der transparente Hintergrund und die Flasche Wein, die als Symbol des guten Lebens niemals ganz aus dem Blick gerät – und Mariam Jincharadze umkreist zart und geschmeidig das Paar, füllt auf einem seitlich stehenden Tisch die Gläser und lässt sie klingen. Im Vordergrund eine Vertiefung, die zu Palms BMW-Cabrio wird. Da sitzen die beiden Alten bald beisammen, und in Reithers störrischen Missmut leuchtet kindliche Freude auf.

Schauspieler mit Strahlkraft

Bodo Kirchhoff veröffentlichte seine Novelle „Widerfahrnis“ 2016. Ein Widerfahrnis wird definiert als ein Ereignis, das ins Leben einer Person eintritt, ohne dass sie darauf Einfluss hätte, dem die Person sich schicksalhaft ausgesetzt sieht. Im Buch geschieht dies auf doppelte Weise: Leonie Palm ist Reithers Widerfahrnis, die Frau, die den Mann noch einmal aus seiner selbstbezogenen Ruhe zu reisen vermag. Und da ist jenes Flüchtlingsmädchen, das die Romanze der beiden augenblicklich aus dem Gleichgewicht bringt.

Palm und Reither reisen südwärts und wollen sich befreien – und Geschichten von Menschen, die sich in entgegengesetzte Richtung bewegen, auf der Suche nach Sicherheit, kreuzen ihren Weg immer wieder. Bodo Kirchhoff charakterisiert seine Figuren und ihren Hintergrund mit großer Beiläufigkeit sehr genau. „Wo kaufen Sie ihren Wein?“, fragt Palm den Büchermenschen Reither. „Dort, wo er wächst“, antwortet er. „Wir sind im Sommer an die Ostsee gefahren“, sagt sie: „Ich war nur einmal in Rom und Venedig. Man kann fast sagen: Ich war noch nie in Italien.“ Und er sagt: „Wohin soll man fahren, wenn man alles Schöne schon gesehen hat? Manchmal beneide ich die Eritreerin am Empfang.“

Analog zur Geschichte des ungleichen Paares werden die Fliehenden aber auch zum Widerfahrnis der Wohlstandsgesellschaft, an dem Reither exemplarisch scheitert. Er bleibt zurück, mit einer Geschichte, die ihm das Herz zerreißt und einer sehr fleischlichen Wunde an der Hand – Palm ist längst anderswo. Ein Mann, der aus Nigeria floh, leistet Reither Hilfe und fährt ihn zurück nach Deutschland. „Wenn nichts Unerwartetes mehr auf uns zukommt“, sagte Leonie Palm früh schon zu Julius Reither, „dann sind wir tot, nicht wahr?“

Christof Küster hat Bodo Kirchhoffs Novelle einfach und klar, reduziert auf das Wesentliche inszeniert, er hat sich auf die Strahlkraft seiner Spieler verlassen und auf einen Text, der trotz aller Widerfahrnisse zu einem Ton von leisem Optimismus findet. Der Applaus bei der umjubelten Premiere klingt besonders: Der Autor sitzt im Publikum, angereist aus Frankfurt, um die Uraufführung zu erleben.