Christian Lindner übernahm die FDP in aussichtsloser Lage. Im Wahlkampf zeigt der Spitzenkandidat, wie sehr die Partei von ihm abhängig ist. Er hat ihr mit seinen Auftritten und einer bis ins Detail durchdachten Selbstinszenierung ein neues Image verpasst.

Hamburg - Ein Selfie, noch eins und noch eins: Auf dem Podium, das auf dem Gertrudenkirchhhof in der Hamburger Innenstadt errichtet wurde, stehen junge Leute Schlange, um sich mit einem jungen, rotblonden, dreitagebärtigen Mann im blauen Anzug auf ein Smartphonebild zu quetschen. Ein älterer Herr hat eine Frage, ihn regen die hohen Energiekosten auf. Ein Jüngerer will wissen, was er studieren soll. Sie sollen Mails schreiben, sagt der Umworbene, bitte an ihn direkt, er antworte dann, versprochen. Aber jetzt müsse er erst noch schnell die Fotowünsche seiner jugendlichen Fans abarbeiten, sagt er mit einem Schnappschusslächeln, das live zwar wie festgetackert wirkt, aber auf den Bildern, die Minuten später tausendfach auf Twitter, Facebook oder Instagram kursieren, angenehm und zugewandt. Der Kerl müsste sich zerteilen, besser vierteln oder gar achteln, um es halbwegs allen recht zu machen. Ein Popstar? So etwas Ähnliches. Christian Lindner: von Beruf FDP-Chef.

 

Es regnet in Hamburg, was sonst. Und windig ist es auch. Ein zu früh anbrechender Herbst saugt Farben aus der Kulisse. Trotzdem sind mehr als 1000 Menschen gekommen auf diesen mäßig schicken Platz zwischen Deutscher Bank und Kosmetikstudio. Es gab eine Zeit, da traute sich die FDP kaum noch auf öffentliche Plätze, nur noch Hallen wurden gebucht, zu groß war die Sorge, dass in Fußgängerzonen Störer alles übertönen. So sehr hatte sich die Parteiführung um den früheren Parteichef Guido Westerwelle in der Haltung verbissen, die Welt in Freund und Feind aufzuteilen, dass jenseits der Parteigrenzen der Vorrat an Sympathie und Interesse aufgebraucht war. Bei Lindner protestiert keiner, niemand brüllt. Nicht alle klatschen, aber man ist wieder bereit zuzuhören.

Der Spitzenkandidat der Freien Demokraten bei der Bundestagswahl ist ein begnadeter Entertainer, spontan, schlagfertig, stets ohne Rednerpult und ohne Manuskript. Ein, zwei Blicke auf einen bierdeckelgroßen Zettel, das muss reichen für 40 Minuten Rede über Bildung, Digitales, Diesel, Sicherheit, Bürgerrechte, Flüchtlinge, das liberale Große und Ganze. Es sei „ein Ausdruck von Zivilcourage“, dass so viele bei diesem Sauwetter „zu dieser kleinen außerparlamentarischen Partei“ gekommen seien, scherzt er. Aus „reiner Solidarität“ würde er sich ja auch gerne in den Regen stellen, aber er müsse gleich noch mit Passagieren im Auto nach Kiel fahren und da könne er „nicht riechen wie ein nasser Hund“. Am Ende sagt er: „Wenn Sie schon mit uns gemeinsam an diesem Nachmittag im Regen gestanden haben, machen Sie’s doch dauerhaft und werden Sie Mitglied der FDP.“ In Halle, wenige Tage zuvor, hat er keine Lust, lange zu reden. Da mischt er sich unter die Zuhörer, fragt, worüber denn die eigentlich plaudern wollen, bietet mit einem Geldschein in der Hand als Wetteinsatz jenen einen Zwanziger an, die bereit sind, immer noch auf Martin Schulz als künftigen Kanzler zu setzen. Es sind solche Pointen, solche ironischen Spielchen, mit denen er im Wahlkampf immer wieder das Eis bricht und auch jene amüsiert, die ihn nicht wählen wollen.

Neustart im Trümmerhaufen

Rückblende: Sonntag, 22. September 2013, 18 Uhr, Berliner Congress Center. Die FDP-Führung erlebte in dieser Sekunde und an diesem Ort, wie ihre Partei erstmals den Einzug in den Bundestag verpasste – Tränen, apathische Gesichter, gebrochene Biografien. Nach vier grässlichen Regierungsjahren, die Union und FDP gemeinsam verbockt hatten, musste die FDP die Zeche zahlen, erntete Häme und Spott. Vorn auf dem Podium, wie erstarrt, Philipp Rösler, Lindners Vorgänger, daneben der Spitzenkandidat Rainer Brüderle. Keiner der Gäste dachte in diesem Augenblick an gemeinsame Selfies, wer wollte sich mit diesem Spitzenpersonal noch blicken lassen – keine Fragen, keine Erwartungen, keine Hoffnung, Stille, fast wie auf einem Begräbnis. Später durchdrang, von Fernsehsendern übertragen, ein grölender CDU-Fraktionschef Volker Kauder das Schweigen der Fassungslosen, und man sah Angela Merkel etwas ungelenk zum Toten-Hosen-Song „An Tagen wie diesen“ freudig klatschen. Es wirkte, als störten sie die Totenruhe.

So war das damals in den Stunden, in denen Christian Lindner, damals NRW-Landeschef und gerade mal 34 Jahre alt, sich selbst kurzerhand zum Kapitän auf einem Dampfer ernannte, der eben einen Eisberg gerammt hatte. In den Monaten danach saß er manchmal in Hintergrundgesprächen, zu denen nur zwei, drei Journalisten erschienen waren. Es gab Umfragen, in denen die Nachfrage nach seiner Partei nicht einmal mehr in Spuren messbar war, und in Brandenburg plakatierten noch im Herbst 2014 vogelwilde Liberale den Slogan „Keine Sau braucht die FDP“. Ein Spruch, den die Wähler bei der Landtagswahl ernst nahmen – die FDP landete bei 1,5 Prozent. Und heute? Spielen sie vor dem Auftritt in Hamburg den Hit von Welshly Arms: „It’s about to be legendary“ – frei übersetzt: Was bald geschieht, wird legendär sein.

Tatsächlich steht die FDP vor einem Comeback, das legendär werden könnte. Bei der Bundestagswahl winken wieder rund neun Prozent. Lindner, der die Partei erst reanimiert und ihr dann ein neues Design verpasst hat, muss sich, wie das in Wahlkämpfen üblich ist, zwar mit einiger Kritik herumschlagen, aber eine Frage stellt ihm keiner mehr: Wird es denn diesmal überhaupt für fünf Prozent reichen? Stattdessen muss er erklären, mit wem er gern koalieren würde und ob er eigentlich genug Leute habe für die vielen schönen Spitzenposten, die bald in Aussicht stehen. Es gibt Schlimmeres.

Keiner fragt mehr: „Schaffen Sie das?“

Vor vier Jahren pilgerten kurz vor der Wahl Brüderle und Rösler zu Helmut Kohl und bettelten, von nackter Angst getrieben, kurz darauf bei Unionswählern erbarmungswürdig um Zweitstimmen. Heute kann Lindner gelassen Preisschilder ins Schaufenster hängen. Am letzten Sonntag vor der Wahl wird die FDP auf einem Parteitag zehn Prüfsteine für eine Regierungsbeteiligung verabschieden. Ein Schnäppchen soll die FDP, anders als bei den Koalitionsverhandlungen 2009, nicht werden. Das verspricht Lindner seinen Zuhörern in Hamburg und anderswo. Er hat sich und seiner Partei zwar eine Brise Demut verordnet nach der Hybris und dem Gekreische früherer Jahre. Aber billig, sagt er, sei die FDP diesmal nicht. Man werde Fehler machen, aber er garantiere: „Nicht mehr dieselben wie früher, wir lassen uns neue einfallen.“ Die Union darf das witzige Wortspiel getrost als Warnung verstehen.

Als „Posterboy“ verspotten ihn manche, wegen der stylischen Schwarz-Weiß-Porträts, mit denen Wahlplakate bedruckt sind. Gemeinsam mit Katja Kipping musste er bei Sat 1 allen Ernstes die Frage des Moderators Claus Strunz ertragen, ob die Linke-Chefin Lindner „scharf“ finde. Es mag zwar sein, dass Strunz gern mal beim Niveau nach ganz unten absackt, aber das ändert nichts daran, dass die Art, wie Lindner sich und seine optischen Vorzüge zur Schau stellt, der Perfektionismus, mit dem er fast schon maschinengleich Wirkung erzielt, tatsächlich polarisiert und manchem unheimlich und unangenehm ist. Bei Wahlkampfauftritten und in den vielen Talkshows sitzen Gesten und Jackett wie angegossen. Manche finden das alles eitel, zu selbstverliebt. Wer das so sieht, mag nicht ganz falsch liegen, aber er muss aufpassen, das Wesentliche nicht zu übersehen.

Der Markenbotschafter

Man spürt tatsächlich zu jeder Zeit, dass Lindner fast schon pedantisch kontrolliert, welches Bild sich die Menschen von ihm machen können. Jedes noch so beiläufig fotografierte Smartphonebild wird zum professionellen Shooting. Das alles ist aber mehr als nur selbstgefällig, es ist vor allem Mittel zum Zweck. Ihn hat begeistert, wie der Autokonzern Opel mit dem Slogan „Umparken im Kopf“ sein ramponiertes Image aufbesserte, mit Jürgen Klopp als Werbeikone. Ein ähnliches Kunststück sollte mit ihm als Werbeträger und einzig verbliebenem Aufmerksamkeitsmagneten seiner Partei auch der FDP das Überleben sichern. Und so schafft er fortwährend ein Bild von sich, das spiegeln soll, was liberale Politik aus seiner Sicht ausmacht: Aufbruch, Aufstieg, Optimismus, Neugier, Tatendrang, Toleranz, eine unbändige Freude am Diskurs. Jeder Auftritt ist ein Versuch, seine Partei mit seiner Persönlichkeit als Marke zu prägen – mit Haut und Haaren.

Bei näherer Betrachtung wird ihm keiner absprechen, dass er mehr noch als in sein Erscheinungsbild in stundenlange politische Debatten und intellektuelle rhetorische Kunstflüge verliebt ist. Früher, als Generalsekretär, wurde er in seiner Partei dafür vom Spitzenpersonal regelrecht verlacht. Er trat im Dezember 2011 auch deshalb zurück, weil die FDP nicht bereit war, jene Ideen aufzusaugen, die er ihr als Parteichef später hemmungslos einzuimpfen begann. Aber bei aller Leidenschaft für den gepflegten Meinungsstreit geht auch Lindner davon aus, dass Parteien nicht wegen ihrer Programme gewählt werden, sondern dass das Vertrauen in die Führungsfiguren alles entscheidet, die Frage, welche Haltung sie ausstrahlen und ob diese zum jeweiligen Lebensgefühl passt. Dem ordnet er alles unter, wie es scheint, mit Erfolg.

Eine ältere Frau harrt in Hamburg unter einem großen Regenschirm tapfer aus, Juristin, gehobenes Bürgertum. Sie sagt, sie wähle eigentlich CDU. Aber diesmal überlege sie es sich. Ihr Kreuz bei der FDP könne „nicht schaden“. Der Lindner, der könne ja reden, Donnerwetter. Und sympathisch sei der. Also: warum nicht. Mal was anderes nach acht Jahren großer Koalition. Acht Jahre große Koalition? War da nicht was dazwischen, ein schwarz-gelbes Intermezzo, besser gesagt, Inferno? „Ach ja“, sagt sie, „hab  ich fast vergessen. Schwamm drüber.“