Wie wohlhabend ist ein Land? Künftig werden in die Antwort auf diese Frage auch Drogen, Panzer und geschmuggelte Zigaretten einbezogen. Eine neue Rechenmethode fürs Bruttoinlandsprodukt macht es möglich.

Stuttgart - Was haben ein Drogendealer, ein Panzerhersteller und ein Pharmaforscher gemeinsam? Was wie der Auftakt eines schlechten Witzes klingt, lässt sich mit einer EU-Vorgabe beantworten. Denn künftig tragen diese drei doch sehr unterschiedlichen Berufsgruppen alle offiziell zur Wirtschaftsleistung Deutschlands bei. Grund ist eine neue Methode zur Berechnung des Bruttoinlandsprodukts, die ab September greifen soll. Während der Staat sich darüber freuen kann, dass seine relevanteste wirtschaftliche Kennzahl quasi aus dem Nichts heraus nach oben springt, stöhnt der Statistiker über neue Schätzmodelle und komplizierte Parallelrechnungen. In letzter Konsequenz kann sich die Neuberechnung auch auf die EU-Beiträge der Mitgliedstaaten auswirken.

 

Die Harmonisierung volkswirtschaftlicher Gesamtrechnungen (siehe Infobox) ist kein Thema, mit dem man bei einem Date oder am Kneipentresen fesseln kann. Für Wolfgang Nierhaus vom Ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München sieht das jedoch anders aus: „Es gibt nichts Spannenderes als Statistik. Sie ist die Brille, mit der wir die Welt anschauen“, sagt er. Und besonders in die Ferne sieht der Statistiker mit dieser Brille derzeit etwas verschwommen.

Deutschlands BIP springt um 77 Milliarden Euro nach oben

Nicht nur, dass ab September eine neue Rechenregel mit insgesamt 44 Revisionspunkten angewendet werden muss, die Deutschland für das Jahr 2011 wohl ein ruckartiges BIP-Plus von drei Prozent oder 77 Milliarden Euro bescheren wird. Nein, es werden gleich auch noch neue Daten zur Berechnung verwendet, die man beispielsweise beim Zensus 2011 gesammelt hat. „Da sind durchaus noch Überraschungen möglich“, meint Nierhaus. Auch das Statistische Bundesamt (Destatis) und Eurostat halten sich hierbei bedeckt. Sie gehen von einem Sprung um drei Prozent für Deutschland und 2,4 Prozent für die Gesamt-EU aus – nur auf Basis des neuen Rechenmodells, ohne die Datenbereinigung. Die konkreten Zahlen gibt es dann aber erst im September. Die Niederlande waren hierbei etwas schneller und haben ihre Rechenergebnisse für das Jahr 2010 bereits jetzt veröffentlicht. Ihr BIP stieg durch Datenbereinigung und neue Rechenmethode um insgesamt 7,6 Prozent. Ein billiger Rechentrick, mit dem sich saturierte Industrieländer ihre Wachstumsraten schönrechnen können? Keineswegs, meint Nierhaus. Denn die Datensätze werden zurückgerechnet bis zum Jahr 1991. Prozentual gesehen ändere sich an den Wachstumsraten also kaum etwas. „Nur das Niveau ist dann eben höher.“

Kiffen steigert bald den Wohlstand

Doch was ändert sich überhaupt in der Berechnung? In letzter Zeit war häufiger zu lesen, dass Kiffen bald wohlstandssteigernd sein wird. Das stimmt, denn künftig wird auch der Drogenhandel ins BIP eingerechnet, genauso wie Tabakschmuggel. Erwirtschaftet ist eben erwirtschaftet, unabhängig davon, auf welchem auch zwielichtigen Wege dies zustande kam. Deutschland rechnet ja auch bereits seit Jahren die Erträge der Prostitution ins BIP ein. Destatis schätzt den jährlichen Umsatz für diese Dienste auf 14 Milliarden Euro. „Je Kontakt läge der Preis über alle sexuellen Dienstleistungen somit bei gut 30 Euro“, heißt es in einem amtlichen Vermerk. Für Drogenhandel und Schmuggel müssen jetzt eben auch neue Schätzmodelle her. „Dass sich dabei Unabwägbarkeiten ergeben, ist für den Statistiker völlig normal“, sagt Stefan Hauf von Destatis. Er ist in der Abteilung für volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen für das Thema Prostitution zuständig. Wie bei allen eher im Verborgenen ablaufenden Dienstleistungen ist die Statistik hier auf Schätzungen angewiesen, „und die sind immer unsicherer als konkrete Erhebungen“.

Für Nierhaus vom Ifo-Institut ist die Einbeziehung nachvollziehbar. „Die Gesamtrechnungen der Staaten werden dadurch vergleichbarer. Was bei uns verboten ist, ist woanders vielleicht erlaubt“, meint er mit Blick beispielsweise auf Marihuanakonsum. Auch gekaufte Militärgüter werden fortan ins BIP eingerechnet. Galten gekaufte Panzer und Kriegsschiffe bisher als Vorleistungen des Staates, werden sie ab September als Investition verbucht, die über mehrere Jahre hinweg das Gut äußere Sicherheit produzieren – es sei denn, sie werden sofort in einem Krieg zerstört, wie ein Eurostat-Bericht erklärend hinzufügt. Der Anteil an Panzerkäufen und Drogenverkäufen am Bruttoinlandsprodukt wird sich jedoch in Grenzen halten.

Auch Panzer werden „kapitalisiert“

Den Löwenanteil des BIP-Anstiegs durch die Neuberechnung – 1,9 Prozent von drei Prozent – mache aber die Neuzuordnung von Ausgaben für Forschung und Entwicklung aus, heißt es in einem Eurostat-Bericht. Sie werden, genauso wie die Panzer, „kapitalisiert“. Begründung: das aus der Forschung gewonnene Wissen würde ja auch nicht binnen eines Jahres verbraucht, sondern immer wieder genutzt. Ein klares politisches Signal für die Wissensgesellschaft. Der eigentliche Knackpunkt beginnt aber erst, wenn die neuen BIP-Zahlen in den Ländern vorliegen. Denn das BIP ist eine Grundvariable für viele andere wirtschaftsstatistische Kennzahlen, beispielsweise die Defizitquote (staatliche Neuverschuldung in Relation zum BIP) und die Schuldenstandsquote (staatlicher Bruttoschuldenstand in Relation zum BIP). Wolfgang Nierhaus vom Ifo-Institut hat ausgerechnet, was eine BIP-Steigerung von drei Prozent hier bewirken würde: die Defizitquote des Jahres 2011 bliebe unverändert bei niedrigen 0,8 Prozent. Die höhere Schuldenstandsquote würde von 80,0 auf 77,7 Prozent sinken. So ergibt sich der Effekt, dass Deutschlands Schulden prozentual sinken, in absoluten Zahlen aber gleich bleiben.

Nierhaus hat seine Rechnung jedoch ohne die neuen Datensätze gemacht, die unter anderem durch den Zensus zustande kamen. Hier tappen die Statistiker noch weitgehend im Dunkeln. Vorstellbar ist aber, dass das BIP pro Kopf, das wichtigste Maß für materiellen Wohlstand in einem Land, sprungartig ansteigen wird. Denn das BIP steigt wohl mindestens um drei Prozent, während der Zensus 2011 ermittelt hat, dass in Deutschland 1,5 Millionen Menschen weniger leben als bisher angenommen. Es gibt also mehr BIP für weniger Köpfe oder anders: die Statistik macht uns wohlhabender, ohne dass wir es merken.

Die Finanzminister freuen sich

Wer nun glaubt, all diese Rechnereien seien nur statistische Taschenspielertricks, täuscht sich. Denn die BIP-Neuberechnung hat durchaus auch politische Dimensionen. Durch den Anstieg des BIP wird es für die EU-Länder leichter, die Defizitregel einzuhalten: maximal drei Prozent des BIP dürfen als neue Schulden aufgenommen werden. Da freuen sich die Finanzminister.

Kritisch wird es aber, wenn es um die Beitragszahlungen der Länder an die EU geht. Diese orientieren sich nämlich auch am BIP. In diesem Fall wollen die Finanzminister jedoch nichts überstürzen und halten an der alten Rechenmethode ESVG 1995 fest. Solange also kein neuer Beschluss der Minister vorliegt, muss der Statistiker seine Zahlen zurückrechnen. Das heißt, erst rechnet er das BIP nach der neuen Methode – und zieht dann alles wieder ab, was neu dazugekommen ist. Kein Grund zur Freude für Stefan Hauf von Destatis. „Das ist für unsere Abteilung mit 100 Mitarbeitern eine beträchtliche Mehrarbeit. Wir haben alle eine Menge Überstunden aufgebaut.“ In einem Destatis-Bericht heißt es dagegen nur lapidar: „Dies bedeutet Doppelarbeit.“ Vielleicht ist der ganze Wirbel um das ESVG 2010 doch für einen Witz am Kneipentresen gut.

Revision
Die Vereinheitlichung der Berechnung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern hat Tradition. Alle 15 Jahre kommen Experten von Vereinten Nationen, EU-Kommission, Weltbank, internationalem Währungsfonds (IWF) und der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) zusammen, um zu beraten, wie volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen an die neuen weltwirtschaftlichen Gegebenheiten angepasst werden müssen.

Das Ergebnis ist ein mehrere Hundert Seiten langer Bericht, in dem die Rechenkünstler der Statistikämter Hilfestellung bekommen, wie sie beispielsweise die Wirtschaftsleistung eines multinationalen Konzerns in ihre Landesbilanz einrechnen sollen.

SNA
Geschehen ist diese Anpassung zum letzten Malvor sechs Jahren. Dieses „System of National Accounts 2008“ (kurz: SNA 2008) wird beispielsweise von den USA seit dem vergangenen Sommer angewendet.

ESVG
Die EU folgt den Empfehlungen, passt sie aber europaspezifischen Anforderungen an, die beispielsweise bei den Mittelzuweisungen aus dem EU-Struktur-und-Regionalfonds greifen. Dieses sogenannte Europäische System VolkswirtschaftlicherGesamtrechnungen (ESVG) ist damit eine europäische Version des SNA. Die offizielle Druckversion des ESVG 2010 ist etwa 650 Seiten lang.Die alte kam noch mit 400 Seiten aus. Schon der Umfang verrät: die Regelungsdichte in der EU nimmt zu.

Die BIP-Formel

Formel
Hinter dieser kryptischen Formel verbirgt sich die wichtigste Kennzahl der Wirtschaft: das Bruttoinlandsprodukt (BIP). Es gibt den Wert aller in einem Land produzierten Waren und Dienstleistungen an.

Rechnung
Es gibt mehrere Wege, das BIP zu berechnen. Einer führt über die BIP-Entstehung: Man nimmt den Produktionswert der Gesamtwirtschaft (hier: Y) und zieht die Vorleistungen (D) ab; der Saldo ist die Wertschöpfung. Werden nun noch Güter- oder indirekte Steuern (Tind ) addiert und Gütersubventionen für Unternehmen (ZU ) abgezogen, dann ergibt sich das BIP. Die Verwendungsrechnung geht so: man rechnet den Konsum der Privathaushalte (CH ), den Konsum des Staates ( CS ) und die Bruttoinvestitionen ( ib ) zusammen und fügt noch die Außenhandelsbilanz – Exporterlöse (X) minus Importerlöse (M) – hinzu.