Rassismus hat gerade in Deutschland eine lange Geschichte – und sie fängt erheblich vor Immanuel Kant an. Der alltägliche Rassismus nimmt heute gerne einen Umweg in Kauf und tut harmlos. Das aber ist er nicht. Manche der aktuellen Debatten führt dennoch in die Irre, meint StZ-Autor Armin Käfer.

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Armin Käfer (kä)

Stuttgart - Als der antike Philosoph Heraklit den Krieg „Vater aller Dinge“ genannt hat, wusste er noch nichts vom Rassismus. Es gab das Wort nicht im sechsten vorchristlichen Jahrhundert. Gleichwohl verhielten sich seine Zeitgenossen entsprechend, indem sie fremden Menschen, die nicht zu verstehen waren, pauschal den abschätzigen Namen „Barbaren“ verpassten. Das bedeutete für die alten Griechen nichts Anderes als „Stammler“ oder „Laller“. Derart grobschlächtige Völkerkunde würde heutzutage unzweifelhaft als Rassismus gebrandmarkt. Und dieser gilt inzwischen als „Vater aller Probleme“. So schreibt es die Hilfsorganisation Pro Asyl in einer jüngst veröffentlichten Stellungnahme.

 

Der Rassismus bildet somit gemeinsam mit der Migration eine schwierige Familie. Migration identifizierte der Bundesinnenminister Horst Seehofer einmal als „Mutter aller Probleme“, als er sein Herz für Flüchtlinge noch nicht entdeckt hatte. Die eine Zuschreibung ist so borniert wie die andere. Für dieses Fazit reicht ein Blick auf die Ursachen der akut vorherrschenden Krisen: Wie lässt sich die Corona-Pandemie aus dem Rassismus herleiten? Und der Klimawandel aus der Migration? Es scheint doch eher umgekehrt zu sein: die Seuche provoziert bisweilen rassistische Reaktionen, der Klimawandel veranlasst Migration. Die dringlichsten globalen Probleme haben offenkundig andere Eltern. Der Rassismus ist keineswegs Vater sämtlicher sozialen Konflikte, allenfalls ein Urahn mancher von ihnen.

Gräuelmärchen über Juden standen am Anfang

Wie weit zurück das reicht in unsere spezifisch deutsche Geschichte, vermittelt eine Reichstagsdebatte aus dem Jahr 1912. Zu der Zeit gab es noch keine Nationalsozialisten, aber demokratische Politiker gaben schon ein Vorgefühl auf deren spätere Wortwahl. Es ging in dem Disput um die „üblen Folgen der Mischehen“. Ein damals gebräuchliches Schlagwort hieß „Verkafferung“. Der für die Kolonien des Kaiserreichs zuständige Staatssekretär spöttelte, in Amerika könne „der Neger“ sogar „Präsident werden, wenn er nicht vorher gelyncht“ werde. Selbst der Sozialdemokrat Georg Ledebour nahm ungeniert den Ausdruck „Hottentotten“ in den Mund, womit Menschen bezeichnet wurden, die im heutigen Namibia lebten, was seinerzeit Deutsch-Südwest hieß. Das Schmähwort „Hottentotten“ folgte ganz dem Muster der antiken „Barbaren“. Es spielte auf eine für Europäer schwer verständliche Sprache an. Schon das zeitgenössische „Koloniallexikon“ führte es als „Spottname“. Ledebour bemühte sich zwar, über die indigenen Bewohner der deutschen Kolonien nicht offen herabsetzend zu reden, sprach aber von „Männern unseres Blutes“, von „degenerierten Mitglieder unserer Rasse“ – eine verräterische Wortwahl, die er mit seinem sozialdemokratischen Humanismus offenbar in Einklang bringen konnte.

Rassistisches Denken wurzelt aber noch viel tiefer in der deutschen Historie. Davon erzählt die unselige Geschichte des christlichen Antijudaismus. Sie beginnt im Mittelalter. Der jüdischen Minderheit wurden Ritualmorde und Hostienfrevel angedichtet, sie war als „Brunnenvergifter“ verschrieen, wurde als Urheber von Seuchen verfolgt. Viele „hegten einen geradezu unüberwindlichen Judenhass“, so der Historiker Hermann Greive. Und dieser Hass brach sich in unzähligen Pogromen Bahn. Im Gefolge der Pest der Jahre 1348/49 wurde in mehr als 300 Gemeinden auf deutschem Boden Juden „erschlagen, ertränkt, verbrannt, gerädert, gehenkt, vertilgt, erdrosselt, lebendig begraben und mit allen Todesarten gefoltert wegen der Heiligung des göttlichen Namens“, heißt es im Nürnberger Memorbuch, einer zeitgenössischen Quelle.

Rassismus gab es schon lange vor Hitler

Mit der Aufklärung war es damit keineswegs vorbei. Ausgerechnet ihr Erfinder, der Königsberger Philosoph Immanuel Kant, bekannt als Theoretiker der Vernunft und Begründer einer Generalformel humaner Ethik („Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde“), formulierte abenteuerlichste Thesen über die „verschiedenen Racen (!) des Menschen“. Bis heute ist umstritten, ob Kant tatsächlich Rassist war. Der moderne Rassismus hat sich danach erst entfaltet. Er stützte sich auf vermeintlich naturwissenschaftliche Erkenntnisse, die der Biologie entlehnt waren. Zu den prominenten Pionieren zählten Leute wie Friedrich Ludwig Jahn („Hass alles Fremden ist des Deutschen Pflicht“), der bis in unsere Tage als „Turnvater“ verehrt wird. Selbst in Berlin, der Hauptstadt diesbezüglicher Sensibilität, gibt es noch einen Jahn-Sportpark und auch ein Jahn-Denkmal in der Hasenheide. Rassistisches Denken war in Deutschland heimisch und in weiten Kreisen populär, bevor Adolf Hitler sich darüber in „Mein Kampf“ verbreitet hat.

Es hat auch den Untergang der nationalsozialistischen Diktatur überlebt, deren institutionalisierter Rassenwahn eine Menschenvernichtungsindustrie befeuerte – mit einer beispiellosen Zahl von Opfern. Von Rassen zu reden, erscheint denen, die ungeachtet des Holocaust noch immer in solchen Kategorien dachten und denken, nicht mehr opportun. Dezidierter Rassismus sei im Deutschland des 21. Jahrhunderts „eher gering verbreitet“, befand der Konfliktforscher Andreas Zick 2010. Er nehme jedoch häufig einen „Umweg über scheinbar harmlosere Abwertungen“, überschneide sich mit anderen Formen der Diskriminierung.

Rassismus ohne Rassen

„Der angebliche Rückzug der rassistischen Ideologie in der Bundesrepublik Deutschland nach den Schreckensereignissen des Nationalsozialismus kann nur als vordergründig identifiziert werden“, sagt Zicks Kollege Johannes Zuber. Zwar sei der Begriff des Rassismus inzwischen für die meisten „ein rotes Tuch“. Die damit gemeinten Denkschablonen seien „aufgrund ihrer begrifflichen Verschleierungen schwieriger zu identifizieren“. Manche nennen das schlichtweg „Rassismus ohne Rassen“. Zuber diagnostiziert jedenfalls eine „nachhaltige, weite Verbreitung von rassistischen Einstellungen in der Mitte der bundesrepublikanischen Gesellschaft“. Zu diesem Schluss kommt auch die sogenannte Mitte-Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung, welche diese Einstellungen regelmäßig auszuloten versucht. Demnach hätten 2019 bei Umfragen sieben Prozent der Deutschen rassistische Ansichten offenbart, die Menschen aufgrund ihrer Hautfarbe oder Abstammung abwerteten. 54 Prozent äußerten sich abschätzig über Asylbewerber.

Nicht jedes Ressentiment ist aber gleich rassistisch. Grenzen sind schwer zu ziehen. Kritik an der Flüchtlingspolitik oder Vorbehalte gegenüber Kulturen, für die Toleranz, Liberalität und Emanzipation Fremdworte geblieben sind, lassen sich auch auf andere Motive zurückführen. „Wenn alle vom Rassismus reden, heißt das noch nicht, dass der Rassismus auf dem Vormarsch ist“, schreibt der marokkanische Autor Kacem El Ghazzali in der „Neuen Zürcher Zeitung“. Er meint: „Je mehr der Rassismus in der westlichen Gesellschaft verschwindet, desto lauter werden die Stimmen, die an jeder Ecke rassistische Motive erkennen wollen.“

Das Paradoxon der Emanzipation

Man könnte das auch das Paradoxon fortgeschrittener Emanzipation nennen: Je weniger rassistische Phrasen und Übergriffe akzeptiert werden, desto häufiger fallen sie auf. Die Wahrnehmung von Diskriminierung ist in besonders sensibilisierten Gesellschaften besonders hoch. Das gilt aus historischen Gründen für Deutschland – schützt aber auch bei uns niemanden davor, bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz benachteiligt zu werden, allein weil sein Name arabisch klingt. Ungeachtet der Frage, wie verbreitet rassistische Ansichten tatsächlich sind – sie werden in den Echoräumen sozialer Netzwerke enorm verstärkt. Zudem hat die Zahl der Menschen zugenommen, die sich betroffen und verletzt fühlen könnten.

Auch potenzielle Opfer und erklärte Antirassisten sind allerdings nicht gefeit davor, selbst in rassistische Denkschablonen zu verfallen. Wer überall nur ethnische Konflikte lodern sieht, bleibt letztlich dem gleichen Weltbild verhaftet: Rassenkampf statt Klassenkampf. Die Farbe Weiß steht in den aktuellen Disputen nicht nur für westlichen Überlegenheitsdünkel („White Supremacy“). Sie findet als despektierliches, demonstrativ distanzierendes Etikett auch inflationär Verwendung, um zu markieren, wo die Übeltäter und Profiteure in diesem Konflikt vermeintlich sitzen. Wenn von Rassismus die Rede ist, wird das unschuldige Weiß zur Signalfarbe für Schuld. Kollektive werden auf äußerliche Merkmale, auf Hautfarbe und Herkunft reduziert – ist das etwa nicht rassistisch?

Mit Schwarz-Weiß-Logik ist der Rassismus nicht zu überwinden

„Ihr Weiße“, schreibt Malcolm Ohanwe im „Spiegel“ anklagend, „ich würde gerne mal wissen, wie es ist, weiß zu sein.“ Im Bemühen, rassistische Klischees ironisch zurück zu spiegeln, reproduziert er diese nur und schafft damit neue. Mit Schwarz-Weiß-Logik ist der Rassismus gewiss nicht zu überwinden. Eine Identitätspolitik, welche die Menschheit nach immer feinteiliger zergliederten Kategorien sortiert, offenbart letztlich nur das Unvermögen zu einer Weltsicht, die solche Unterschiede ignoriert. Die Sinnhaftigkeit von Benennungen, welche PoC für „farbige Menschen“ und BPoC oder BIPoC für „schwarze indigene farbige Menschen“ zu separieren versuchen, ist ohnehin fragwürdig – wobei es für die Verfechter solcher Klassifizierungen schon ein Sakrileg ist, wenn Leute sich anmaßen, darüber zu schreiben, die sich nicht dazuzählen dürfen.

Diese Art von linker Identitätspolitik sei „ein Kind der rechten Identitätspolitik“, sagt die Migrationsforscherin Sandra Kostner. Sie betrachte Menschen „zu sehr als Merkmalträger und zu wenig als Individuum“. Eine Segmentierung nach äußerlichen Merkmalen – man könnte es auch Rassismus der Antirassisten nennen - ist ihrem Effekt nach kaum von rechter Ideologie zu unterscheiden. Das dient gewiss nicht der Verständigung, gar der Versöhnung, verfolgt vielmehr eine konfrontative Absicht. Es befördere, so Kostner, „eine Wir-gegen-die-Mentalität“. In einer von Einwanderung geprägten Gesellschaft, die fortwährend herausgefordert ist, sozialen Zusammenhalt zu gewährleisten, wirkt das kontraproduktiv – nämlich: zersetzend.

Zweierlei Verständnisse von Freiheit

Im Ergebnis geht es um zweierlei Verständnisse von Freiheit, die sich widersprechen: einer Freiheit, die Emanzipation von spezifischen Bevormundungen reklamiert, aber auf Besonderheit pocht – und der Freiheit, die sich als universaler Anspruch versteht.

Wer von Freiheit unter Seinesgleichen träumt, einer Freiheit mit Scheuklappen, aber die Bedürfnisse der jeweils anderen aus dem Blick verliert, gibt sich mit dem Recht auf Vielfalt zufrieden, wo uns doch alle viel mehr an dem fundamentalen Recht aller Menschen auf Ähnlichkeit gelegen sein müsste. Vom Rassismus befreit werden wir erst dann sein, wenn nur noch zählt, was uns verbindet – und nicht vor allem, was uns trennt.