Seit der „Spiegel“ ein rechtes Skandalbuch von seiner Bestsellerliste gestrichen hat, steht ein Zensurverdacht im Raum. Wie zuverlässig sind Rankings, die über große Marktmacht verfügen? Wie kommen sie zustande? Eine Schadensbesichtigung.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Ob es einem gefällt oder nicht, was auf Bestsellerlisten steht, gilt. So hätte man vor Kurzem noch arglos die Dokumentationen dessen, was den meisten gefällt, quittiert. Immer wieder erfreut darüber, was sich an bedeutender Literatur als mehrheitsfähig erweist, oft ernüchtert über vieles andere, das im kleinen Kreis der Kennerschaft in niedrigen Auflagen vor sich hin dümpelt, ohne jemals in einer der Charts zu erscheinen.

 

Doch manchmal schafft es ein Buch, gerade durch seine Abwesenheit von sich reden zu machen, allerdings ohne dass man darüber besonders glücklich würde. In den letzten Wochen hat eine eher auf rechtsdrehende Spezialinteressen gemünzte Schrift die Ordnung der literarischen Wertschätzungssysteme gründlich durcheinandergebracht. Wie antisemitisch, völkisch oder verrannt Rolf Peter Sieferles „Finis Germania“ auch immer ist: Bis vor Kurzem stand das in dem stramm neurechten Antaios-Verlag erschienene Buch noch auf Platz sechs der „Spiegel“-Sachbuchliste, bis es auf Beschluss der Redaktion von derselben gekippt wurde, mit der Begründung, man wolle den Verkauf eines solchen Buchs nicht befördern.

Verflachung des geistigen Lebens

Seitdem schwebt ein böser Verdacht über dem Erfolgsindikator, der sich seine durch Geschmacks- und Werturteile ungetrübte rein statistische Bewertungsgrundlage immer zugutegehalten hat. Wie zuverlässig, wie vertrauenswürdig ist also das Instrument der Bestsellerliste, das in einer eigentümlichen Zirkulation mit seinen Beliebtheitsrankings die Karriere eines Buchs ja nicht nur abbildet, sondern eben auch befördert und damit über enorme Marktmacht verfügt?

Die erste Bestsellerliste findet sich Ende des 19. Jahrhunderts in der amerikanischen Literaturzeitschrift „The Bookman“. 1927 feierte sie in Deutschland mit Hermann Hesses „Steppenwolf“ an der Spitze Einzug in die Zeitschrift „Literarische Welt“. Das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ befürchtete damals eine „weitere Verengung und Verflachung des geistigen Lebens“. Heute misst der Hauptgeschäftsführer des Börsenvereins, Alexander Skipis, den Bestsellerlisten als Orientierungspunkte für Leserinnen und Leser auf dem Buchmarkt eine wichtige Rolle zu. Auch das „Börsenblatt“ veröffentlicht Bestsellerlisten zu den Sparten Belletristik, Sachbuch, Ratgeber, Hörbuch, Krimi, E-Book, Kinder- und Jugendbuch und DVD.

Bestsellerlisten sind Übersichten über die meistverkauften Bücher innerhalb eines bestimmten Zeitraums. Sie werden statistisch auf Basis der Abverkäufe an einer bestimmten Zahl an Verkaufsstellen ermittelt. Dafür zuständig sind Marktforschungsinstitute wie die in Baden-Baden ansässigen Unternehmen Media Control und GfK Entertainment.

Muriel Michels ist bei Media Control für den Bereich Buch zuständig. Die in ihrem Haus erhobenen Daten liegen den meisten der bekannten Bestsellerlisten zugrunde, den im „Focus“, der „Zeit“, dem „Stern“ veröffentlichten, seit einigen Jahren auch jenen, die das Branchenmagazin „Buchreport“ dem „Spiegel“ zuliefert. Trotzdem weichen die Listen in Einzelheiten voneinander ab. „Das liegt an unterschiedlichen Erstellungskriterien, über die letztlich der Kunde – der Auftraggeber – entscheidet“, sagt Michels. Während die „Spiegel“-Listen innerhalb der einzelnen Sparten nach Formaten geführt werden – Hardcover, Paperback, Taschenbuch –, werden die Titel in anderen Publikationen nach Warengruppen gelistet, Belletristik, Sachbuch, Ratgeber.

Ungewöhnliche Schwankungen

Die Bibel etwa gehört der Warengruppe 546 im Bereich Sachbuch zu, wird von den meisten Auftraggebern auf ihren Listen aber ausgeklammert, vielleicht auch weil sie sich zwischen aktuellen Titeln wie dem „Seelenleben der Tiere“ oder „Keine Zeit für Arschlöcher“ doch merkwürdig ausnehmen würde. Abweichungen ergeben sich auch durch die unterschiedlichen Erhebungszeiträume, beim „Focus“ etwa die Frist zwischen Dienstag und Montag, bei „Stern“ und „Zeit“ Freitag bis Donnerstag, beim „Spiegel“ Montag bis Sonntag. „Wir sammeln in diesen jeweiligen Zeiträumen die Daten an 4200 Verkaufsstellen, die den Sortimentsbuchhandel, Online-Shops, Bahnhofsbuchhandel, Kauf- und Warenhäuser umfassen und haben damit eine Marktabdeckung von 84 Prozent“, sagt Michels. Ein absoluter Wert, ab wann ein Buch zum Bestseller taugt, lässt sich nicht angeben, ausschlaggebend ist allein der Stellenwert innerhalb der Zahl aller verkauften Bücher.

Auf keinem dieser Rankings fand sich in der letzten Woche der Titel „Finis Germania“. Für die im „Börsenmagazin“ erscheinende, von der GfK Entertainment erstellte Liste gibt es dafür einen einfachen Grund. Aufgenommen werden nur Titel ab einem Preis von 9,90 Euro, Sieferles Miszellen liegen darunter. Aber warum fehlte der Titel auch im „Focus“? Offensichtlich unabhängig von der „Spiegel“-Entscheidung habe es das Buch einfach nicht mehr unter die ersten hundert Titel geschafft, sagt Muriel Michels, solche Schwankungen seinen nicht ungewöhnlich und kämen immer wieder vor.

Einen Fall wie diesen hat es noch nicht gegeben

Eine andere Erklärung hat Christoph Ostermann von „Buchreport“. Allem Anschein nach sei der Verlag von dem Ansturm überrascht worden und im Moment gar nicht mehr in der Lage zu liefern. Trotzdem kann sich Ostermann in diesen Tagen vor Anrufern kaum retten. In seinem Haus werden aus den Media-Control-Daten die „Spiegel“-Listen erstellt, vieles muss er sich anhören, seit der Titel aus der Wertung genommen wurde. Von Bücherverbrennung 2.0 ist da die Rede und Schlimmerem. Einen Fall wie „Finis Germania“ habe es bisher noch nicht gegeben, sagt Ostermann, und er werde sich auch hoffentlich nicht wiederholen.

Wohl seien die „Spiegel“-Listen kuratiert, gerade darauf beruhe ihre Beliebtheit. Aber die Kriterien, welche Bücher nicht berücksichtigt werden, sind transparent und auf der Homepage von „Buchreport“ einsehbar: Nachschlagewerke, Schulbücher findet man in den Charts so wenig wie Kinder- und Jugendbücher. Es komme vor, dass man sich bei einzelnen Titeln abstimme, ob sie in die ein oder andere dieser Gruppen fallen, sagt Ostermann. Bei Sieferles anstößigen Notaten freilich dürfte wohl kaum ihre Verwechselbarkeit mit Kochbüchern, Fitnessratgebern oder dem BGB ausschlaggebend gewesen sein, Gattungen, die ebenfalls nicht berücksichtigt werden.

Am besten Schweigen

Dass das Bestsellersystem vor allem diejenigen mit weiterer Aufmerksamkeit belohnt, die sie ohnehin schon haben, liegt für Ostermann in der Natur der Sache. Flapsig beschreibt er den zugrunde liegenden Kreislauf im Rückgriff auf eine Redewendung: „Der Teufel sucht sich nun einmal immer den größten Haufen aus.“ Ein Teufelskreis also, wenn man so will. Wer ihm entkommen möchte, kann ja immer noch auf eine der Bestenlisten zurückgreifen, deren Empfehlungen auf dem Urteil einer Jury und nicht auf Verkaufszahlen basieren. Doch der Teufel ist bekanntlich ein Eichhörnchen, das seine braunen Nüsse sammelt, wo immer es ihm beliebt. Denn just die verirrte Bestenlisten-Empfehlung eines „Spiegel“-Redakteurs hat Sieferles Titel ja erst bestsellerfähig gemacht.

Was also tun? Am besten schweigen. Seit der Debatte um die Tilgung des Buchs von der „Spiegel“-Liste, so die Mitarbeiterin einer Bahnhofsbuchhandlung, sei die Nachfrage rasant in die Höhe geschnellt. Bei Sabine Braun von der Buchhandlung Pegasus in Stuttgart-Möhringen hat dagegen bisher erst ein einziger Kunde nach dem ominösen Buch verlangt. Seit vielen Jahren steuert sie das Musterbeispiel eines jener liebevoll geführten Buchbiotope durch die Krisen der Branche. Bestsellerlisten spielen bei ihr eine untergeordnete Rolle. „Ich mache meine eigenen Bestseller. Das sind Titel, von denen ich überzeugt bin.“ Wenn sie zufällig auf einer der einschlägigen Charts landen, umso besser, Elena Ferrante ist so ein Fall. Ihre Kunden kommen, weil sie intensiv beraten werden wollen. „Mit einer Liste kreuzt hier keiner auf.“