Der Hauptbahnhof ist als Großbaustelle mit Löchern im Gemäuer, Zäunen und Umwegstegen keine Augenweide. Zum Verschönern hat die Bahn zwei junge Künstler engagiert. Früher wurden illegale Graffiti-Sprayer strafrechtlich verfolgt. Heute sind sie willkommen.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Wenn der Winter naht, treten viele Vogelarten eine lange, anstrengende Reise an. Von klein auf wissen Zugvögel, in welche Richtung und wie lange sie fliegen müssen. Eine Art Kalender und Kompass haben sie im Kopf und starten stets zum richtigen Zeitpunkt, sobald ihre Nahrung bei Kälte knapp wird. Zum Brüten werden hoffentlich alle im Frühjahr gesund heimkehren.

 

Ein ständiges Hin und Her ist ihr Leben. In Stuttgart sorgt 25 Meter lange Kunst nun dafür, dass Zugvögel garantiert immer zurückfinden – an einem Ort, an dem Zehntausende von Menschen täglich ihre Reise beginnen.

Die Zugvögel tragen Schnüre um den Hals

Der Stuttgarter Street-Art-Maler Roman de Laporte alias Jack Lack, der europaweit gebucht wird (in Kürze geht’s nach Rotterdam), aber auch schon zum Sprühen in Australien und Kanada engagiert war, hat seinen Zugvögeln Schnüre um die Hälse gebunden. Sie schmücken nun den Steg, auf dem Fahrgäste vom Bahnhofsvorplatz einen weiten Umweg zu den 16 Gleisen laufen müssen, die nicht mehr bis vor zur Bahnhofshalle führen. Für den Bau von Stuttgart 21 herrscht ein großes Durcheinander an diesem zentralen Ort. Nicht gerade einladend sieht es hier aus, nicht nur wegen der Löcher im historischen Bonatzbau. Die 15 Meter lange Regenbogenfahne zum CSD, die noch immer am Bahnhofsturm hängt, und die Graffiti am Steg scheinen die einzigen ästhetischen Lichtblicke im Baustellen-Grau zu sein.

Den Zugvögeln, die bis zur Königstraße weithin sichtbar sind, geht’s ein bisschen wie ihrem Erschaffer Jack Lack. Immer wieder fliegen sie los – aber die Seile holen sie immer wieder zurück. Auch der 27-Jährige bewegt sich oft weit von der Heimat fort. Aber es zieht ihn häufig zurück, als würden ihn unsichtbare Bänder nie ganz loslassen. Die Verbundenheit mit Stuttgart bleibt.

„Stuttgart kann nicht bunt genug sein“

Wie in der Szene üblich, hat Roman de Laporte in jungen Jahren mit dem Sprühen von Schriften und Buchstaben angefangen. Keiner muss ihn fragen, ob er sich auch mal illegal ausgetobt hat. Die besten Street-Art-Künstler der Welt haben sich vielfältig ausprobiert, nicht immer auf erlaubten Wegen. Die Deutsche Bahn musste einst viel Geld ausgeben, um unerwünschte Graffiti an Zügen, Gebäuden oder Brücken zu entfernen. Heute wird Jack Lack von der Bahn für seine bunten Werke bezahlt und war völlig frei in der Auswahl seiner Motive. Eines seiner Arbeiten kann man an den Pfeilern der Paulinenbrücke bewundern. Antike Skulpturen hat er dort mit Elementen, wie man sie etwa von Tattoos kennt, gestaltet. Roman de Laporte freut sich, dass sich immer mehr Graffiti in Stuttgart ganz legal ausbreitet. „Die Stadt kann nicht bunt genug sein“, sagt er.

Vor zwei Jahren hat die Bahn bundesweit für Aufsehen gesorgt, als sie die von Läden, Gastroständen und Kiosken leer geräumte Halle des Bonatzbaus den Stars der Graffiti-Szene überlassen hat – nämlich dort, wo nun ein Einkaufstempel mit Vier-Sterne-Hotel entsteht. Auch die „Tagesthemen“ haben damals berichtet. Die Botschaft lautete: Stuttgart ist nicht nur Autostadt. Stuttgart ist auch junge Kunst. An der „Secret Walls Gallerie“ in der 15 Meter hohen Halle, die man „Bahnhofskathedrale“ genannt hat, wirkte Jack Lack mit. Seine temporären Arbeiten kam so gut an, dass er den Nachfolgeauftrag mit den Zugvögeln bekommen hat.

Jack Lack will wegkommen von Spraydosen zum Wegwerfen

Dem 27-Jährigen ist es wichtig, seine Kunst klimafreundlich zu erschaffen. Die bisher üblichen Spraydosen, die nach Gebrauch fortgeworfen werden, habe bei ihm ausgedient. Jack Lack experimentiert mit einem Sprühsystem, das sich am Prinzip der Wasserpistolen orientiert. Man kann das Gerät immer wieder verwenden, weil es sich auswaschen und neu füllen lässt.

Seine Werke zeichnen sich durch das Spiel mit Dreidimensionalität und Tiefe aus. „Das Besondere am Steg ist die Kombination aus Leinwänden und der Arbeit direkt auf dem Material“, sagt er, „so entsteht der Effekt, dass das Bild aus den Leinwänden herausbricht.“ Wie lange seine Zugvögel bleiben? Wer weiß das schon? Bis zum Jahr 2025 soll der neue Bahnhof fertig sein. Dann ist der Flug der Graffiti-Kunst vorbei. Doch wer will schon darauf wetten, ob dieser Termin wirklich eingehalten wird?

Blumen am Eingang zur Großen Schalterhalle

Noch eine zweite Künstlerin war im Auftrag der Bahn unterwegs: Valentina Teinitzer hat den Eingang zur Großen Schalterhalle, der sich vom Bahnhofsvorplatz aus gesehen rechts befindet, mit ihrer Blumenkunst geschmückt. „Ich will den Reisenden ein schönes Gefühl mit auf den Weg geben“, sagt die 28-Jährige. An einem Tag hat sie obendrein 300 Rosen an Fahrgäste verschenkt, die aus der Klettpassage nach oben kommen.

Die Ranken um das Eingangsportal sind eine Mischung aus Steppenlilie, Amarant, Allium-Kugeln, Rosen und Eukalyptus. Darüber freut sich Bahnhofsmanager Nikolaus Hebding, der sich, wie er betont, für Tier- und Umweltschutz einsetzt. Seine Azubis durften Blumenkästen aus ausrangierten Europaletten an den Bahnsteigen installieren. Bunt ist Stuttgart eben noch viel schöner.